„Herr Bosch, bitte für Sie!“
Der Betriebsleiter schaut überrascht auf die beiden Schriftstücke, während sich Marion bereits umgedreht hat. Sie spürt Humbolds Blick im Nacken. Eilt die Treppe hinunter. Nein, diesen Arbeitstag wird sie nicht regulär beenden. Sie kann sich auch nicht von den Kolleginnen verabschieden. Mit ihrem Getuschel, ihren versteckten Andeutungen. Einfach nur fort, jetzt gleich! Man muss den Tatsachen ins Auge sehen: mit Humbold kann es nur schief gehen. Den Gerüchten zufolge wird er bald zum Schwiegersohn des Betriebsleiters aufsteigen - und dann gute Nacht.
Von ihren Kolleginnen kann Marion keine Hilfe erwarten. Weibliche Rivalität, ach wenn die wüssten! Zugegeben, Humbold sieht blendend aus… Doch Marion hat genug erlebt. Und Flucht muss kein Zeichen von Schwäche sein, im Gegenteil. Schon ist sie wieder an ihrem Arbeitstisch angelangt. Gut, dass sie sich hier nicht mit Firlefanz ausgebreitet hat: Spruchkalender, Maskottchen, Fotos von Babys und Haustieren. Marion braucht bloß ihre Tasche zu packen und …
„Warum so eilig, Lady?“
Manchmal wirkt das Leben wie ein Film, der sich in seiner Spule festgefressen hat. Alles steht. Wie hat Humbold es bloß so schnell nach unten geschafft? Eines muss man ihm lassen: der Mann hat Ziele. In dem Fall Marion. Da steht er nun, die Hände lässig am Türstock abgelegt, und versperrt ihr den Weg nach draußen. Wie ein lebendiges Fangnetz.
Was tun? Marion wendet sich an ihre Freundin Ines, weil sie hat immer die besten Ideen. „Blumentopf werfen.“ Das rät ihr die Freundin. Humbold will keine Sauerei im Büro. Keine Scherben, keine Heerschar an feuchten Hydrokultur-Kügelchen in allen Raumecken. Das macht die Sauberkeits-Erziehung von Frau Gravensteiner aus dem Kinderheim, die hängt dir ein Leben lang nach.
Marion sieht sich hastig um. Greift dann nach der Schefflera zu ihrer Rechten. Einmal Schwung holen und schon fliegt der Topf durch den Raum. Humbold fängt. Ein Mann mit ausgezeichneten Reflexen, das muss man ihm lassen. Derweil huscht Marion durch die Türe. Die Treppe hinunter und hinaus ins Freie.
Das ist noch einmal gut gegangen. Auf einen Bus nach Hause braucht sie freilich nicht zu hoffen, mitten am Vormittag. Den Weg wird sie wohl zu Fuß bewältigen müssen. Andererseits kann ihr etwas Bewegung nur gut tun nach dem ganzen Stress. Beutetiere laufen bekanntlich auch gerne ein Stückchen weiter, wenn sie ihrem Jäger entkommen konnten. Ganz nützlich, um das Adrenalin aus den Adern loszuwerden.
Aus der Portiersloge ragt der Kopf von Herrn Sauerländer.
„Hallo, Frau Krawitzer! Homa schau Dienstschluss?
Alles Irreguläre erregt seine Aufmerksamkeit. Kein Wunder, denn das Sitzen im Portierhäuschen ist auf Dauer ganz schön langweilig. Deshalb schaut sich Herr Sauerländer stundenlang Westernfilme auf seinem Schwarz-weiß-Fernseher an. Der Bildschirm nicht größer als ein Bierdeckel und die Auflösung so grobkörnig wie Hirse. Aber immer noch spannender als das, was ihm die Überwachungskameras darbieten: die Hausecke, den Parkplatz, das Dach der Produktionshalle,…
Einmal ein Held sein, das würde Herrn Sauerländer schon gefallen. Doch in den letzten zwanzig Jahren kein einziger Schusswechsel am Betriebsgelände. Nicht einmal eine Messerstecherei oder ein winziger Spionagefall. Bloß falsch geparkte Autos. Marion beugt sich zu ihm hinunter.
„Krank bin ich.“
Herr Sauerländer verzieht das Gesicht. Die Unpässlichkeit einer Büroangestellten kann ihm auch nicht weiterhelfen bei der Verwirklichung seines Heldentraums. Bedenke außerdem die Ansteckungsgefahr. Deshalb schiebt er schnell seine Leberkäsesemmel zur Seite und drückt mit dem Zeigefinger auf den grauen Knopf neben seinem Bildschirm. Klick! Das Werkstor geht auf.
Marion tritt auf die Landstraße und marschiert zügig den Hügel hinunter. Zwischen ihren Füßen überziehen kleine Rinnsale den Asphalt. Neben der Fahrbahn gluckernde, braune Bäche. Hin und wieder wird Marion von einem Auto überholt. Hinterreifen werfen Wassergirlanden in die Luft und auf ihren Mantel. Rückscheinwerfer verschwinden im allgegenwärtigen Regengrau.
Ihr ist es recht. Sie ist mit sich im Reinen, hat ihre Mutprobe bestanden. Noch zwei Ortschaften bis zum Haus ihrer Freundin Ines. Dort werden sie beratschlagen, wie es weitergehen soll. Plötzlich Bremsgeräusche. Humbold - er wird sie doch nicht mitten in der Arbeitszeit verfolgen? Quietschend wird neben ihr ein Fenster hinunter gekurbelt. Grüne Wollmütze über faltigem Gesicht, es riecht nach Kuhstall.
„Grias di! Wüsd midfoan?“
Dank des freundlichen Nachbarn ist Marion im Nu beim Haus von Ines angelangt. Der Schlüssel unter dem Blumentopf, wie immer. Mantel ausschütteln, die nassen Schuhe mit Zeitungspapier ausstopfen. Sie wird sich von Ines ein paar trockene Sachen ausborgen müssen: Hose, Socken und ein Handtuch für die Haare.
Später stellt Marion in der Küche einen Teekessel mit Wasser auf. Sally schlängelt um ihre Beine. Die grau getigerte Katze ist der Freundin vor einem Jahr zugelaufen. Nichts verströmt so ein Gefühl von Zuhause und Behaglichkeit wie eine Katze. Findet Marion. Sie gießt sich eine Tasse Tee ein und macht es sich auf der Wohnzimmerbank gemütlich. Regentropfen hämmern gegen das alte Holzfenster. Graue Schlieren verunmöglichen die Sicht nach draußen. Vielleicht gibt es außerhalb des Wohnzimmers gar keine Welt mehr? Die Firma, der Betriebsleiter, die Kolleginnen und Humbold … alle in einer großen Sintflut untergegangen. Marion wäre es recht, sie braucht gerade niemanden. Bloß dieses Sofa soll bleiben, das ist ihre Arche.
Aus der Ecke erklingt das regelmäßige Ticken der alten Pendeluhr. Tick, tack,… Marion bemerkt, dass der Schwanz der Katze im Rhythmus mittanzt. Belustigt streichelt sie über den schnurrenden Rücken. Für Sally scheint die Welt jedenfalls in Ordnung zu sein. Versonnen wendet sich Marion der alten Pendeluhr zu. Sie gehörte einst dem Großvater von Ines. Nussholz mit ländlichen Schnitzereien. An der Rückwand kannst du seine Initialen erkennen: F.K. für Franz Krawitzer. Mit Bleistift auf das Holz gekritzelt. Der Großvater lebt schon lange nicht mehr, doch das goldene Pendel seiner Uhr schwingt unermüdlich weiter.
Natürlich wird die Mechanik regelmäßig aufgezogen, mit dem kleinen Schlüssel unten im Kasten. Dabei hebt sich der Kolben, und sein Gewicht bringt wiederum das Uhrwerk in Schwung. Das Gewicht des Kolbens verhindert den Stillstand der Zeit. Ob Menschen auch solche Lasten bräuchten, um beweglich zu bleiben? Marion denkt an Humbold. Sollte sie ihm etwa dankbar sein dafür, dass er sie durch seine Penetranz gezwungen hat, diesen Schritt ins Ungewisse zu machen?
Ein ganzer Mann ist aus Humbold geworden, das muss Marion zugeben. Mit Schultern und allem. Wenn er den Raum betritt, werden die Gespräche der Kolleginnen plötzlich sehr wichtig. Dazu die richtige Pose: Beine, Dekolleté, Augenaufschlag,… Marion ist ja nicht blind.
Dabei hat sie sich anfangs so gefreut, Humbold wiederzusehen! Ihr kleiner Bruder. Der liebe Junge aus dem Heim, der ihr beim schweren Abschied von Viktor zur Seite gestanden ist. Sie waren einmal so vertraut miteinander… Alles vor ihrer Versetzung nach Schleswig-Holstein. Vier lange Jahre in der Fremde haben sie eben verändert - warum will Humbold das nicht wahrhaben?
Als Marion nach Österreich zurückkehrte, hatte sie niemanden. Keine Verwandten mehr und die wenigen Freundschaften verloren. Auch die Landschaft ihrer Kindheit, nach der sie sich in der Ferne so verzehrt hatte, erschien ihr seltsam fremd. Es war der Gesang des schwarzen Flusses, der ihr damals Trost spendete.
*
Du sagst, es braucht noch mehr Ist es nicht genug? Sich selbst verlassen weniger als nichts Mehr als alles Du ruhst in dir ohne dich zu beziehen Fasst dich mit der Krone an die Wurzel schluckt deine eigene Geschichte Siehst alles doch kennst es nicht Hörst alles doch weißt nichts vom Lauf der Dinge Grenzt dich ab doch grenzt nichts aus * Marion beschloss damals, pragmatisch vorzugehen: zuerst Geld verdienen. Es lag auf der Hand, Frau Gravensteiner um Hilfe zu bitten. Chefin des Kinderheims in Mopping, in dem Marion ihre Jugend verbracht hatte. Gleichzeitig beste Freundin von Frau Bosch, deren Mann die Firma Theuscher & Söhne leitete. Und die war wiederum der größte Arbeitgeber der Gegend und Zulieferer internationaler Automobilfirmen.
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