Da formte der Jäger mit seinen Händen einen Trichter und begann, laut zu rufen. Zuerst suchte er hinter dem Haus, in der Werkstätte und Scheune. Dann in der Stube, in der Dachkammer und schließlich fand er ihn. Von einem Dachbalken im hinteren Eck der Scheune baumelte der Krawitzerbauer.
Trotzdem dauerte es nochmals einige Stunden, bis die Nachbarn auch an Marion dachten. Ja, wo war denn das Kind geblieben? Eine Suchaktion wurde gestartet, auch im umliegenden Wald. Immer mehr Dörfler beteiligten sich. Bis sich die Guggenbichler an den Erdkeller erinnerte. Dort lag sie, zusammengeringelt unter ein paar Jutesäcken.
Man kann von Glück reden, dass in dem Erdkeller Rüben eingelagert waren. Verhungert ist Marion also nicht. Verdurstet auch nicht, denn die Wände des Kellers waren feucht. „Oba des kloane Diandl, so alloa im Finstan.“ Sagten die Nachbarn. Es wird wohl nicht so einfach gewesen sein für das Kind, weswegen es jetzt partout nicht sprechen wollte. Obwohl doch alle ganz gespannt auf ihren Bericht warteten. Warum um Himmels willen hat der verrückte Krawitzerbauer so etwas Abscheuliches getan? Sein eigenes Kind in ein Erdloch zu sperren!
Doch Marion blieb stumm, aus ihr war nichts herauszuholen. Saß bloß da wie ein Sack Knochen.Den Nachbarn wurde schon mulmig zumute. „Ob da Deifi ia Söh o´ghoid hod?“ Sie tauschten verstohlene Blicke. Oder sahen zu Boden. Vor allem wenn es um die Frage ging, was nun mit dem Kind passieren sollte. Ob jemand bereit wäre, die Kleine aufzunehmen. „De warad jo a xunds Diandl.“ Wenngleich etwas mager, doch mit Erbschaft. Ein Wohngebäude mit Werkstatt, Stall und Scheune, dazu der Wald und die Wiesen rundherum.
Viel wurde über die Tragödie getuschelt. In der Trafik, am Markt und beim Wirten nach dem sonntäglichen Kirchgang. In so einem kleinen Ort passiert es schließlich nicht alle Tage, dass sich jemand aufhängt. Es war dann Pater Eckhardt, der ein Machtwort sprach. Das Kinderheim im Nachbarort. Ja, warum hatten sie nicht früher daran gedacht? Allgemeines Aufatmen, man konnte sich wieder in die Augen sehen.
Die Bäckersfrau schubste das Mädchen ins Auto. Ihr rundes Gesicht glänzte vor Aufregung, als sie die Annehmlichkeiten des zukünftigem Zuhauses beschrieb. Ein sauberes Bett. Jeden Tag eine warme Dusche. Viele neue Freunde. Und das Wichtigste: dreimal täglich Mahlzeiten. Denn bekanntlich hält Essen Leib und Seele zusammen.
Marion hörte nicht zu. Da saß ein knochiger Körper auf der Rückbank eines Autos. Vorne ein Wortschwall aus dem rosigen Gesicht der Bäckerin. Etwas Mehl an der Wange. Es staubte, wenn sich der Mund bewegte. Knochige Mädchenhände, die sich an eine gelbe Tasche klammerten. Der Geruch von Kernseife, mit der die Bäckerin den verkrusteten Körper am Abend abgerieben hatte. Die hellbraunen Perlen einer Rosenkranzkette, die langsam durch die dicht behaarten Finger von Pater Eckhardt glitten. Auf seinem Bauch ein kleines Holzkreuz, das sich bei jedem Atemzug hob und senkte.
Also, was ist jetzt mit den schrumpeligen Kartoffeln? Marion kann doch nicht die ganze Zeit in der Küche herumstehen und über alte Zeiten nachdenken. Vor allem nicht, wenn ihr Darm schon so lautstark auf Nachschub pocht. Irgendetwas Essbares muss es in diesem Haus doch geben! Aber Marion, erinnere dich: da sind noch Humbolds Rüben vor der Türe. Gemeinsam mit den Kartoffel-Veteranen und ein paar Kräutern lässt sich bestimmt ein passables Süppchen zustande bringen.
Rüben… Marion schaudert bei dem Gedanken. Wie viele Jahre hat sie diese vermieden? Seit der Erdkeller-Episode, seit diesen endlosen, finsteren Stunden. Als sich der gewohnte Zeitstrom zu einem zähflüssigen Brei verdickte. Mit Rüben hat sie sich damals durchgebracht, das sind ihre Schätze gewesen.
Aus dem Sandbett in der hinteren Ecke des Kellers hat sie eine nach der anderen ertastet und mit bloßen Fingern ausgegraben. Der Größe nach sortiert und behutsam nebeneinander aufgelegt. Nach faulen Stellen untersucht, gezählt und eingeteilt. Etwa: heute nehme ich die Drittgrößte.
Aber was bedeutete schon das Wort „heute“ in zeitloser Stille. Wo war die Grenze zwischen Heute und Morgen in diesem Meer an Dunkelheit, das nach allen Richtungen floss? Nach außen, aber auch nach innen. Das nicht Halt machte an ihrer Haut. Einsickerte in ihre Poren, ins Gewebe, in die Lungen, ins Herz. Das sich wie ein Gewicht auf jedes Gefühl in ihrer Brust legte. Auf jeden Gedanken. Was half es schon, dass Marion immer wieder an der Holztüre rüttelte und schrie, bis sie heiser war?
Mit der Zeit gewöhnten sich ihre Augen an die Umstände. Sie erkannte: schwarz ist nicht gleich schwarz. Da gab es das Schwarz der tiefsten Tiefe in der hinteren Ecke des Erdkellers, wo die Rüben lagerten. Das gewöhnliche Schwarz im mittleren Bereich, gefolgt vom Wiese-mit-Kühen-Schwarz direkt vor der Holztüre. Aber letzteres war eigentlich schon fast ein Dunkelgrau.
So war es wohl den Gefangenen in den mittelalterlichen Burgverliesen ergangen. Dachte sich Marion. Die waren mit Sicherheit Meister darin gewesen, verschiedene Schattierungen von Schwarz auseinander zu halten. „Ich seh, ich seh, was du nicht siehst und das ist „Moos-ohne-Wiederkehr-Schwarz“ oder „Aschfahl-und-Höllentor-Schwarz oder „Augen-im-finstersten-Keller-Schwarz“.
Auch Marion begann nun mit solchen Spielen. Und das war genau der Moment, als Ines auftauchte. Plötzlich war sie da. Immer gut gelaunt, ließ sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Für die Freundin war der Erdkeller kein Gefängnis, sondern ein Abenteuerspielplatz. Sie war die Erste, die den Mut hatte, es auszusprechen: Werden die anderen uns rechtzeitig finden? Was ist mit dem Vater passiert?
So lange hatte er sie noch nie eingesperrt. Entweder er war im Rausch die Leiter hinunter gefallen und liegen geblieben. Oder sein Geist hatte sich endgültig aufgelöst im Alkoholnebel. Das bedeutete, dass sie so bald nicht gefunden würde. Beruhige dich, Marion. Sagte Ines. Das ist eine Herausforderung. Wir schaffen das!
Und sie erzählte Marion vom Trick mit der Rübe. Nimm eine von diesen schwarz-goldenen Zauberstäben in deine Hand. Sagte sie. Und dann schabe mit den Schneidezähnen daran entlang. Das macht ein tolles Kratzgeräusch und besiegt die Stille.
Ines gab ihr auch den Tipp, die Wände nach feuchten Stellen abzusuchen, wo sich Wassertropfen bildeten. Und Marion musste ihrer Freundin recht geben: sie schmeckten nicht schlecht. Vor allem, wenn man so großen Durst hat. Nach Erde natürlich, aber nicht nur. Auch ein bisschen nach Brombeere, Champignons und Weizenfeld. Darüber konnte sie mit ihrer Freundin richtig streiten. Welche Ecke mehr nach Beeren schmeckte oder nach Steinpilzen oder doch nach Hafer.
Dann fielen Ines Rechenspiele ein. Ob sie eigentlich schon die Ziegelsteine gezählt hätte, aus denen der Raum gebaut worden war? In welchem Verhältnis die Steine der kurzen Raumseite zur langen stünden? Was wohl der größte gemeinsame Teiler davon wäre, das kleinste gemeinsame Vielfache? Wie viele Steine sie für eine zwanzig prozentige Vergrößerung des Erdkellers benötigen würde?
Jetzt denkst du vielleicht: ziemlich komplizierte Rechenoperationen für eine Achtjährige. Doch Marion hatte sich in Mathematik schon immer leichtfüßig bewegt. Ganz ohne Anstrengung. Das ist damals auch ihrer Lehrerin aufgefallen, nur hat man in jener Zeit nicht so viel Aufhebens gemacht bezüglich Hochbegabung.
Nichts konnte Marions Aufmerksamkeit so fesseln wie Zahlenspiele. Im Gegensatz zu Menschen erschienen ihr Zahlen schon immer so wunderbar verlässlich und solide. Wobei Zahlen für Marion durchaus Persönlichkeit besaßen. Die Eins erschien ihr als typischer Anführer, als Zugpferd und Pionier. Wie der Gipfel eines Berges strahlte sie etwas Erhabenes, Ernsthaftes, auch Einsames aus.
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