„Tut mir leid, Dicker. Muss dich mal wieder ein bisschen pieken!“
Der riesige Waldbewohner drehte unendlich langsam seine Krone in Richtung der Schützin und brummte unwirsch. Das heißt, eigentlich fühlte sich sein Brummen eher an, wie ein leichtes Erdbeben. Der Waldboden zitterte unter den Füßen der beiden Elfen. Verärgert ließ Faltram zwei pinkfarbene Blätter und einige kleine Ästchen zu Boden trudeln. Nicht, dass ihn Emeldas Pfeile wirklich verletzt oder ihm Schmerzen bereitet hätten. Das hätte eine Elfe niemals getan. Es war ein Teil des Spiels, dass er mit ihr spielte und zu dem Spiel gehörte, dass er sich über ihre Attacken ärgerte.
„Na bravo!“, applaudierte Ferendiano. „Wie ich sehe, ist das `E´ schon in Frühform.“
Er warf seinen braunen Pferdeschwanz, der ihm fast bis übers Hinterteil reichte, auf den Rücken. Seine langen, spitzen Ohren lauschten kurz in die Umgebung. Mit blankem Oberkörper stand er, mittlerweile wieder entspannt, an einen der anderen Bäume gelehnt und hielt seine Querflöte in der Hand.
„Und wer hat dich so früh aus den Blättern geholt?“, fragte Emelda.
„Na ja“, sagte der Angesprochene und streckte sich genüsslich, „an einem solch wunderbaren
Sonnentanz darf man doch mal vor dem Frühstück aufstehen und ein kleines Liedchen trällern!“
„Dann war die zauberhafte Musik eben von dir? Das heißt, du hast deinen klugen Gedanken sofort in die Tat umgesetzt? Das sieht dir gar nicht ähnlich!“ Emelda grinste schelmisch.
„Nun, ich hatte wahnsinnige Sehnsucht danach, von dir beleidigt zu werden. Was wäre mein Leben ohne dein Geläster, Schwester? Dafür muss man dann schon mal früh raus, nicht wahr?“ Ferendiano lachte sein jungenhaftes Lachen.
„Sind die anderen schon unterwegs?“, fragte Emelda.
„Ja! Sie sind vor Sonnenaufgang nach Ildindor geritten, um sich mit Hinandua und den Alten zu beraten.“
„Das ist gut! Wir müssen dringend einige Dinge klären. Es scheint unruhig zu sein in Fasolanda. Man munkelt, der Unerhörte sei zurück.“
„Ja, ich habe das auch gehört. Bis jetzt ist es aber nur ein Gerücht. Ich hoffe sehr, dass es das auch bleibt!“
„Hmm! Das hoffe ich auch, aber mein siebter Sinn sagt mir etwas anderes und du weißt, bei wem sie zuerst nachfragen, wenn es in der Hauptstadt Kuddelmuddel gibt.“
„Lass mich an deinen Eingebungen teilhaben, Schwester!“
„Nun, das hat wenig mit Eingebung zu tun, eher mit…sagen wir mal….Ohren offenhalten!“
„Und welche Weisheiten sind an deine offenen Ohren gedrungen?“
„Scheinbar weiß man in der Hauptstadt mehr als bei uns, denn einige aus dem Kreis der Weisen von Fasolanda haben wohl beschlossen, einen Glissando in die Menschenwelt zu schicken, um Sinja eine Nachricht zukommen zu lassen.“
„Oh, Sinja wird kommen?“, freute sich Ferendiano. „Das ist schön. Sie war lange nicht mehr hier!“
„Freu dich nicht zu früh. Bislang scheint sie die Nachricht nicht erhalten zu haben.“
„Was macht dich da so sicher?“
„Ganz einfach: sie hat uns bis jetzt nicht gerufen!“
„Hat es der Vogel nicht geschafft?“
„Das ist unklar. Wir werden vielleicht mehr erfahren, wenn Cichianon und Doriando zurück sind.
Möglicherweise hast du recht und der Glissando hat die Menschenwelt nicht erreicht. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen oder die Botschaft wurde abgefangen.“
„Das wäre allerdings tragisch!“
„Das kannst du laut sagen!“
„DAS WÄRE ALLERDINGS TRAAAGISCH!“, schrie Ferendiano so laut er konnte.
In der obersten Etage des Waldes entstand sofort erhebliche Unruhe. Das Gekreische kleiner Äffchen und zorniges Vogelgezeter waren die Antwort auf Ferendianos Schrei. Waldfrüchte, kleine Äste und Blätter flogen aus dem obersten Stockwerk des Waldes zu Boden.
„Du bist und bleibst ein alberner Kindskopf, Ferendiano!“, rügte Emelda den Elfen mit einem verschmitzten Lächeln, „musst du den ganzen Wald verrückt machen mit deinem Blödsinn?“
„Oh gestrenge Schwester vom heiligen Orden des `E´, zeigt Milde mit einem armen Komödianten! Ich bin nun mal das `F´ und das steht für Freude und Fröhlichkeit. Allerdings, meine Liebe, mache ich mir in letzter Zeit häufiger mal Gedanken darüber, warum ausgerechnet unsere beiden Töne, das `E´ und das `F´ in der C -Dur -Tonleiter unmittelbar nebeneinanderliegen. Die Fröhlichkeit und der Ernst als Nachbarn? Ob das einen tieferen Sinn hat oder ist es einfach eine seltsame Laune der Natur? Sind wir vielleicht doch enger miteinander verwandt als uns lieb ist?“
„Solange mein `E´ dabei der Leitton ist, soll mir deine Verwandtschaft recht sein!“, grinste Emelda.
„Musst du immer das Kommando haben, Schwester? Ist das wirklich so wichtig? Und was ist mit der Liebe? Was ist mit deinem Herzen? Du weißt, wie wenig sich Macht und Liebe vertragen. Oft schließen sie sich gegenseitig aus. Wenn du die Liebe für die Macht opferst, wird das kein gutes Ende nehmen. Dann wird dein `E´ bald der Leidton sein. Also pass auf dich auf!“
„Wer sagt, dass ich das will? Pass´ du mal besser auf, dass dir dein eigenes Temperament nicht abhandenkommt! Solch ernsthafte Gedanken zu Beginn eines Sonnentanzes? Das bin ich von dir gar nicht gewöhnt.“
„Nun, man wird älter und reifer. Aber keine Angst, feurige Schwester, auf nichts achte ich so sehr, wie darauf, dass mir das Lachen nicht einfriert!“
„Dann bin ich ja beruhigt!“
5 Der Vogelfänger bin ich ja…
Pauline und Sinja standen mittlerweile an der Haltestelle und warteten auf ihre Bahn. `7 Minuten´ lautete die Anzeige auf dem Monitor der Verkehrsbetriebe. Eine einzige Straßenlaterne beleuchtete das Wartehäuschen spärlich.
„Hoffentlich kommt das Ding nicht wieder zu spät! Ich hab´ keine Lust, hier festzufrieren!“
„Ja, es ist echt schweinekalt.“
„Sag mal, wie hat dir die `Zauberflöte´ eigentlich gefallen? Kannst du dich noch an die Version erinnern, die wir vor ein paar Jahren gesehen haben, nur mit Klavier und Gesang? Kein Vergleich, oder?“
„Na ja, das war halt damals für Kinder. Ich fand´s toll, mal die ganze Oper zu sehen, so mit vollem Orchester und so. Drei Stunden ist natürlich verdammt lang, aber ich finde, es hat sich gelohnt.“
„Meinst du, wir sollten nächsten Monat wieder hingehen? Wagner soll ziemlich schwierig sein.“
„Ja, kann sein, aber das werden wir ja wohl auf uns nehmen, alleine schon wegen der Dicken. Die wird garantiert auch wieder da sein. Sie hat ja das Ticket von ihrem Seligen geerbt.“ Pauline äffte die Abendkleidbesitzerin nach und grinste breit.
„Mein Gott, war die bescheuert! Die hat mich vielleicht genervt!“
„Ich hab´s gemerkt. Gut, dass wir dann rausgegangen sind.“ Pauline stutzte in demselben Augenblick, in dem die Worte ihre Lippen verließen. Sie hatte etwas bemerkt. Etwas, das mit ihrem Gespräch nichts zu tun hatte. Ein nervöses Flattern. Eine Bewegung, die hier nicht hingehörte. War es das, was Sinja meinte?
„Sag mal, was hast du da vorhin gesehen, als wir aus der Oper kamen?“
„Du meinst, den Glissando?“
„DER Glissando!“ Pauline schüttelte den Kopf. Sie konnte sich immer noch nicht damit anfreunden, dass ein Glissando etwas Lebendiges sein sollte. Ein Tier. „So ein kleines, braunes Vögelchen, sagst du?“
„Ja!“ Sinjas Augen wurden größer. Mit einem Satz hatte Pauline ihre volle Aufmerksamkeit gewonnen.
„Sowas, wie das da oben, was die ganze Zeit vor dem Scheinwerfer hin- und her saust? Das sieht so aus, als wolle es unbedingt von uns bemerkt werden.“
„Wie? Wo? Was hast du gesehen?“
Pauline zeigte auf ein kleines Wesen, das exakt so aussah, wie Sinja es beschrieben hatte. Es flatterte aufgeregt vor der funzeligen Laterne auf und ab und vollführte alle möglichen und unmöglichen Kapriolen, um die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen auf sich zu ziehen. Sinja schaute zu der Laterne hinauf. Das Licht blendete sie. Trotzdem konnte sie den Vogel erkennen.
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