Hagenau und Stratenkötter stellten die jüngere Fraktion des Plenums. Auf allen Gesichtern war Ratlosigkeit abzulesen. Die Fregatte reichte die Zeichnung an Schauerte weiter.
„Ja – meine Herren! Was fällt Ihnen zu der Sache ein? Ich kann mir beim besten Willen keinen Reim darauf machen. Kopiert jetzt hier jemand so nach und nach die ganze Ausstellung? Auf alle Fälle werde ich das Gefühl nicht los, dass es mit dem zweiten Blatt nicht sein Bewenden haben wird. Da kommt was nach!“
Schauerte ergänzte.
„Ich denke, es wird in die Richtung gehen, die Kollege Hagenau bei der ersten Kopie schon angedeutet hat. Da draußen ist einer, der ein unglaubliches Talent zum Kopieren hat, aber keinen Ehrgeiz, zu fälschen und damit Geld zu verdienen – das ist so, als wenn jemand vor dem freien Tor steht und wartet, bis der Torwart von der Toilette zurückkommt. Da steckt irgendein sportlicher Ehrgeiz dahinter. Der muss ein begnadete Zeichner sein und vermutlich so mediengeil, dass er so einen Medienrummel provozieren und auch aushalten kann. Meistens schließt das eine das andere aus. So viele sind es nicht, die dafür in Frage kommen, aber ein paar Gesichter habe ich schon vor Augen, die hier in Berlin für eine solche Nummer gut genug sind. Sie werden sehen, dass einer wie Bender oder Gorsky in Bälde aktiv wird.“
Der Torwartvergleich kam nicht bei allen Teilnehmern der Runde gleich gut an, aber jeder grub in seinem Gedächtnis nach Namen und Gesichtern. Weil sie da nicht fündig wurde, wollte sich die Direktorin helfen lassen.
„Wer käme denn noch in Frage? Dr. Hagenau – Sie sind unser Experte.“
„Ich kenne mich leidlich in der Renaissance aus. Mit der aktuellen Berliner Szene bin ich nicht so vertraut. Aber wenn Sie mich schon so fragen: Ich würde auf alle Fälle den Meisner noch dazu zählen und vielleicht noch Brigitte Tappelt. Kann ja auch eine Frau sein.“
„Müsste der Kopierer nicht auch Linkshänder sein – wegen dem Strich?“, bemerkte Stratenkötter.
„So weit ich weiß, ist Meisner Linkshänder. Aber ich denke, wenn jemand überhaupt so perfekt kopieren kann, dann kann er auch als Rechtshänder den Aufstrich eines Linkshänders nachmachen. Meisner und Bender waren bei der Ausstellungseröffnung anwesend. Wir könnten uns die Video-Bänder der Überwachungskamera ansehen, ob von unseren Kandidaten welche dabei sind. Beim Ablegen der Kataloge konnte die Kamera ja niemanden erfassen, weil der Stuhl innerhalb des Ausstellungsraums im toten Winkel der Kamera steht und an der Außenwand gar keine Kamera ist.“
„Dr. Hagenau – ich bitte Sie! Ich denke, dass wir uns stundenlanges Betrachten langweiliger SchwarzWeiß-Filme erst einmal ersparen sollten, solange ja eigentlich kein Schaden vorliegt. Vielleicht geht ja unsere Phantasie mit uns durch? Zurzeit hat uns jemand zwei wunderschöne Kopien liegen lassen – und das ist ja noch kein Verbrechen. Trotzdem: ermahnen Sie bitte das Aufsichtspersonal zu erhöhter Wachsamkeit!“
Ihre Beurteilung der Lage hatte noch eine zweite Bedeutung, nämlich ihre Richtlinienkompetenz unter Beweis zu stellen. Weil Hagenau ein untauglicher Weisungsempfänger war, setzte er gänzlich unbeeindruckt seinen Gedankengang fort.
„Wenn wir alle dessen sicher sind, dass irgendetwas im Busch ist, sollten wir auch nicht einfach zuwarten. Ich habe da eine Idee. Der Kohoutek von der ars longa hat ja mehrfach mit Herrn Stratenkötter und mir über die Ausstellung gesprochen. Der ist darüber bestens informiert – jedenfalls war sein Artikel ganz ordentlich. Außerdem kennt er die Szene besser als wir alle zusammen. Wenn der sich bei unseren Kandidaten meldet und denen was von einer Portrait-Serie `Künstler in Berlin` erzählt, kommt der in jedes Atelier. Bei der Gelegenheit könnte er dann den Leuten mal sehr vorsichtig auf den Zahn fühlen.“
Der Vorschlag provozierte eine missbilligende Mine der Direktorin.
„Aber dann haben wir doch die Presse am Hals! Sie wissen doch, dass mir das nicht gefällt!“
„Die haben wir sowieso schon am Hals, weil man unserem Personal keinen Maulkorb verpassen kann. Irgendwann schnappt jemand etwas auf und dann ist die Sache gar nicht mehr zu kontrollieren. Die Pandorabüchse ist offen.“
Dabei machte Hagenau eine Geste als würde er seiner Chefin eine dampfende Suppenschüssel mit geöffnetem Deckel präsentieren. Die angebotene Mahlzeit wurde angenommen.
„Na – gut! Meinetwegen. Wie wollen Sie Ihren Kontaktmann dazu bewegen, diese Interviews zu führen?“
Die spontan wirkende Geste mit der Suppenschüssel war wohl schon Teil eines konkreten Plans.
„Ich lade ihn zum Essen bei meinem Lieblingsitaliener ein und erteile ihm einfach einen Auftrag.“
„Nur wenn dem Haus dadurch keine Kosten entstehen!“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken! Das ist mir der Spaß allemal wert.“
Die anderen drei Personen im Raum nickten verständig und erkannten, wie klein und nichtig manches Hindernis erscheint, wenn man genügend Kleingeld hat. Und alle streifte sogleich der Gedanke, dass man die Freiheit einfach auch öfter haben möchte zu sagen: Ja – das gönne ich mir jetzt mal. Der Neid aber wurde hinter drei artigen Gesichtern erfolgreich versteckt.
Wenn es um italienische Küche ging, kannte sich Hagenau ebenso gut aus wie in der Renaissance. Zudem war er ein passabler Hobbykoch. Mit anderen Worten, wenn ein italienisches Restaurant seinem Anspruch genügen wollte, musste es schon wirklich gut sein. Als ersten Lackmus-Test bestellte er immer Saltimbocca – nur um auszuprobieren, ob es wenigstens genauso gut war wie sein von ihm selbst zubereitetes. War es besser als seines, wurde der persönliche Stern verliehen. In den wenigen Restaurants, die das Kriterium erfüllten, war er ein gern gesehener Gast, weil er schon mal eine miese Tagesbilanz hochreißen konnte. Das „Pestello“ war zurzeit sein Favorit.
Er hatte schon an seinem Lieblingstisch gesessen, stand aber wieder auf, als Kohoutek zum verabredeten Zeitpunkt eintraf, um ihn zu begrüßen.
„Hallo Herr Dr. Kohoutek – es freut mich, dass sie meiner Einladung gefolgt sind! Nehmen Sie Platz!“
„Wer mich ins `Pestello` einlädt, muss bei mir keinen Widerstand befürchten, Herr Dr. Hagenau. Schauen Sie mich an, dann kennen Sie schon eine schwache Seite von mir!“
Kohoutek umschrieb mit beiden Händen seinen runden Leib. Sein Blick nach unten kam über den Äquator nicht hinaus.
„Na – ich sollte auch mal mehr auf die Linie achten. Kleiner Aperitif vorab?“
„Ja gerne.“
„Kennen Sie Trinkessig – so eine Art Balsamico, nur besser?“
„Nein, aber ich folge Ihrer Empfehlung gerne.“
Hagenau bestellte auf Italienisch. Im gleichen Moment bedauerte Kohoutek eine verpasste Chance.
„Als ich meine Dissertation über Mantegna geschrieben habe, war ich auch eine Zeit lang in Italien und kam da auch einigermaßen mit dem Italienischen zurecht: Essen bestellen, nach dem Weg oder dem Preis fragen. Ein abstraktes Gespräch habe ich aber nie führen können. Ich hätte mir ein langhaariges Wörterbuch zulegen sollen, aber das habe ich nicht hingekriegt. Jetzt komme ich nur noch alle zwei Jahre zur Biennale nach Venedig und da spricht man ja fast nur noch Englisch.“
„Da habe ich vielleicht einen kleinen Vorteil. Ich habe ein Häuschen in der Toskana und da fahre ich auch so oft hin wie ich kann.“
Hagenaus Gesicht verriet das Glück des Augenblicks, wenn Bilder von angenehmen Menschen, Orten oder Situation vor dem geistigen Auge aufblitzen.
„Und wo?“
„In Campiglia.“
„Kenne ich gar nicht.“
„Muss man auch nicht. Campiglia ist ein schöner kleiner Ort etwa zehn Kilometer landeinwärts von Piombino.“
„Das kenne ich natürlich – da geht’s nach Elba rüber. Übrigens sehr lecker dieser Trinkessig.“
Читать дальше