Maren nahm noch einmal den Brief zur Hand und als sie ihn überflogen hatte sagte sie: „Am 17. soll es losgehen. Das ist ja schon in zwei Wochen.“
„Ja, Ma, und du würdest natürlich sofort anfangen zu packen, oder?“
„Richtig“, antwortete Maren, „du kennst mich eben zu gut. Ich hoffe übrigens, dass du das `Ma´ immer noch als eine Abkürzung für `Maren´ benutzt und nicht als Abkürzung für `Mama´, auch wenn ich ab und zu mal Mutterstelle an dir vertreten muss.“
„Natürlich, Ma, aber ich finde beides gut.“
„Duuu“, sagte Maren und drohte Rebekka mit dem Zeigefinger, „so alt bin ich nun ja auch wieder nicht, dass ich deine Mutter sein könnte.“
Rebekka wohnte seit sechs Jahren in Hamburg und hatte ein ambivalentes Verhältnis zu dieser Stadt , denn sie war auf dem Land in Schleswig-Holstein in der Nähe von Rendsburg aufgewachsen. Sie war die Jüngste von vier Geschwistern und Papas Liebling, bis auf den heutigen Tag, wie ihre Geschwister behaupteten. Sie selbst hatte es eigentlich nicht so empfunden, aber es war wohl etwas dran an der Behauptung, dass das „Nesthäkchen“ immer ein bisschen bevorzugt wird. Sie hatte nach der Mittleren Reife die Fachoberschule besucht und daran eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin angeschlossen. Dadurch war sie auch nach Hamburg gekommen.
Das war schon eine gewaltige Umstellung für sie gewesen aus der ländlichen Idylle in die Großstadt zu ziehen. Und so zog es sie , so oft wie möglich, an die Alster oder zu `Planten und Blomen´ oder in `Hagenbecks Tierpark´. Der schönste Stadtteil war ihrer Meinung nach Blankenese. Hier am Sülberg hätte sie gerne gewohnt, konnte es sich aber finanziell nicht leisten. Im Sommer fuhr sie gerne von Schulau aus mit der Fähre hinüber ins `Alte Land´, kaufte sich direkt auf dem Bauernhof ein spitze Papiertüte mit herrlichen schwarzen Süßkirschen, setzte sich damit an den Deich und versuchte, die Kirschkerne in die Elbe zu spucken.
Aber da die Arbeit im Büro doch eher eine „trockene“ Angelegenheit war, hatte sie schon bald begonnen ehrenamtlich als Bewährungshelferin zu arbeiten. Das war kein leichter Job, aber ihr Beruf kam ihr dabei zugute. Einerseits kannte sie sich inzwischen schon einigermaßen gut im juristischen Paragraphendschungel aus, andererseits konnte sie im Zweifelsfall ihren Chef fragen, ohne dass gleich Anwaltskosten fällig wurden.
Ihr „Ziehvater“ hatte ihr anfangs nur leichtere Fälle übertragen: Jugendliche, die wegen Körperverletzung, Kaufhausdiebstahl oder Drogenvergehen verurteilt worden waren. Früher nannte man so etwas „Jugendsünden“, heute waren es Straftaten, die allerdings oft zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Bei der Gelegenheit hatte sie dann auch Thomas kennengelernt. Sie hatte ein junges Mädchen zu betreuen, das mit ihm und zwei weiteren Jugendlichen in einer WG wohnte. Und es war – wie man so schön sagt – Liebe auf den ersten Blick gewesen. Aber es dauerte noch drei Monate, bis Rebekka damit einverstanden war, dass er in ihre Wohnung zog. Der Alltag hatte sich dann doch schwieriger herausgestellt als gedacht. Eine Zweierbeziehung ist eben etwas anderes als eine WG. Und so kam es dann des Öfteren zu Diskussionen, weil bei Thomas immer wieder alte „WG-Gewohnheiten“ durchschlugen. Bis eines Tages…
Aber all das war Vergangenheit. Jetzt saß sie hier mit dem Brief in der Hand und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Vielleicht hatte Maren doch wieder mal Recht. Sie sollte das alles einfach mal auf sich zukommen lassen
„Jaaa, jippy, juhuuu!“, schallte es schon am frühen Morgen durch das Haus.
„Was hat Mama denn?“, fragte die dreizehnjährige Emilie ihren zwei Jahre älteren Bruder Marc, mit dem sie gerade am Frühstückstisch saß.
„Vielleicht hat sie ja im Lotto gewonnen“, antwortete er.
„Quatsch, die spielt doch gar kein Lotto.“
„Dann kann sie auch nicht gewonnen haben“, witzelte Marc, was ihm einen strafenden Blick seiner Schwester und einen blauen Fleck am Schienbein einbrachte.
Martin, Ehemann und Vater, kam aus dem Bad und rief aufs Geratewohl in den Flur hinein: „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Als kurze Zeit später die gesamte Familie am Frühstückstisch versammelt war, lüftete die Mutter das Geheimnis.
„Ja, es hat geklappt“, rief sie und schwenkte einen Brief über dem Kopf, „die BfA hat meine Kur genehmigt. Ich kriege die Höchststrafe: Sechs Wochen Borkum, all inclusive. Na gut, ein bisschen Taschengeld muss ich schon noch mitnehmen, aber dafür sparen wir ja hier zu Hause mein Essen.“
Sie stützte die Hände auf den Tisch und sah triumphierend in die Runde. Zunächst trat absolute Stille ein. Anscheinend dachte in dem Moment jeder der drei anderen darüber nach, was das speziell für ihn bedeutete, wenn „Mama“ sechs Wochen nicht da sein würde. Eines jedenfalls war ihnen allen sofort schlagartig klar, nämlich dass „Tante Lydia“, Mamas Schwester, in der Zeit das Regiment in ihrem Haus übernehmen würde. Denn so war es vor einiger Zeit auch schon gewesen, als die Mutter im Krankenhaus gelegen hatte. Und davor graute ihnen jetzt schon. Denn Tante Lydia war ihrer Meinung nach ein Tyrann, kommandierte alle herum und führte einfach neue Spielregeln ein, wenn sie es für notwendig oder sinnvoll hielt. An Mamas Art hatten sie sich ja im Laufe der Jahre gewöhnt, auch wenn es nicht immer einfach war, aber wer ist schon immer einfach.
„Und? Freut ihr euch nicht für mich?“
„Doch, doch“, beeilte der Vater sich, der Freude seiner Ehefrau beizupflichten.
„Wann geht es denn los?“
„Schon bald! Am 17.“
"Das ist ja schon in zwei Wochen“, stellte Emilie fest, was ihren Bruder dazu veranlasste zu bemerken: „He, Mensch, du kannst ja rechnen.“
Aber dieses Mal hatte er seine Beine unter dem Tisch rechtzeitig in Sicherheit gebracht und so zog Emilie sich einen blauen Fleck am Schienbein zu, weil sie den Stuhl traf. „Blödmann“, schimpfte sie und knallte das Messer so laut auf den Teller, dass es durchaus Scherben hätte geben können, was Papa wiederum dazu veranlasste zu sagen: „Na, vertragt euch gefälligst.“
Mama bekam die Situation als Erste wieder in den Griff und verkündete : „Keine Sorge, Tante Lydia wird sich in der Zeit um euch kümmern und ich will hinterher keine Klagen hören. Schließlich kann sie hervorragend kochen.“
„Ja“, sagte der Vater, „kochen kann sie gut.“
An der Art und Weise, wie er das gesagt hatte, konnte die Mutter sofort erkennen, dass da noch etwas hinterherkam. „Außerdem muss sie sich in der Zeit allerdings auch um die Erziehung deiner missratenen Kinder kümmern“, sagte er mit einem Seitenblick auf die zwei.
„Es sind immerhin unsere Kinder“, sagte die Mutter und sah ihren Ehemann scharf an. Er registrierte die Korrektur zwar, fuhr aber unbeirrt in seiner Einschätzung fort: „Ich habe nämlich in nächster Zeit einige auswärtige Projekte zu betreuen, von denen ich nicht jeden Abend in den Schoß der trauten Familie zurückkehren kann.“
„Papa drückt sich“, flüsterte Marc seiner Schwester zu, aber Papa hatte es trotzdem gehört und der Junior entging einer Kopfnuss nur durch einen schnellen Sprung zur Seite.
Martin nahm den Brief in die Hand und sagte, nachdem er ihn durchgelesen hatte „Mutter“, – das sagte er immer, wenn er es ernst meinte –, „das ist kein Vergnügungsurlaub, das ist eine Psychokur.“
„Na und?“
„Nix mit `morgens Fango, abends Tango´.“
„Sie werden mir schon nicht den Kopf abreißen.“
„Nein, das nicht. Aber die Ärzte, Psychologen und Therapeuten werden dich richtig durch die Mangel drehen. Die sollen ja feststellen, woher dein Burn-out kommt und sie werden dir klarmachen, was du tun musst, damit es nicht wieder passiert.“
Читать дальше