Meine Mutter war nicht mittellos. Sie besaß ein Grundstück in Hamburg-Rahlstedt, dass sie für mehrere tausend DM verkaufte. Trotzdem entschlossen sich meine Eltern in Thüringen zu bleiben. Der Tauschsatz zwischen Ost- und West-Mark war für meine Eltern sehr günstig. Manchmal erhielt man das Vierfache in Ost-Mark und mehr. Als gerade mal Sechsjährige bekam ich davon einiges mit. Ich wurde von meiner Mutter dazu angehalten, nichts darüber zu erzählen. Dadurch verband ich mit der DDR für mich eine gewisse Bedrohlichkeit. Von diesem umgetauschten Geld richteten sich meine Eltern ihre Wohnung ein. Wir besaßen für DDR-Verhältnisse eine sehr große Wohnung. Im Wohnzimmer befanden sich eine vom Polsterer angefertigte Couchgarnitur, ein rechteckiger Tisch mit einer dunkelroten Keramikplatte, eine Liege, ein großer Bücherschrank, eine Vitrine, ein Klavier und ein ausziehbarer Esstisch mit Stühlen. Der eiserne Ofen wurde bald durch einen Kachelofen ersetzt, den mein Vater für seine Dienstwohnung ohne Kosten beantragen konnte. Es wurde auch die Küche verkleinert und ein Badezimmer installiert. Auch das Tapezieren der Räume war kostenlos. Mein Kinderzimmer war mindestens 16 Quadratmeter groß und das Zimmer meines Bruders war noch größer. Wie üblich war die Miete sehr gering. Auch ein Fernsehapparat wurde angeschafft. Fernsehgeräte waren in der DDR Mangelware. Das Gerät wurde von einem Fernsehmonteur gebaut und auch gleich mit einem Schalter versehen, der bei Betätigung ein gestörtes Westbild hervorrufen konnte. Man spürte die kommunistische Diktatur und hasste die Reden von Walter Ulbricht. Schon als Kind merkte man, dass man nicht alles erzählen durfte und dass es am besten war sich unauffällig zu verhalten. Ich entwickelte so langsam die Fähigkeit, genau zu überlegen, mit wem ich über das Westfernsehen reden konnte.
Am 1.September 1955 wurde ich eingeschult. Ich war ganz stolz auf meine Schultüte. Da wir in der oberen Etage der kleinen Schule wohnten, brauchte ich zum Unterricht nur die Treppe herunter zu gehen. Am Ende der meisten Schuljahre bekam ich sinngemäß folgende Beurteilung: „Chris ist eine ruhige und freundliche Schülerin. Bei ihren Mitschülern ist sie infolge ihres kameradschaftlichen Verhaltens sehr beliebt. Ihre schriftlichen Arbeiten fertigt sie stets sauber und gewissenhaft an“. Dabei gab ich mir bei der Heftführung gar keine besondere Mühe. Die Schularbeiten erledigte ich meist gleich nach dem Mittagessen und schaute dabei gleichzeitig Testsendungen im Fernsehen. Im DDR-Fernsehen sendete man um diese Zeit oft alte Ufa-Filme.
In der 4. und 5.Klasse ging ich nachmittags auch zum Klavierunterricht. Dazu musste ich einen längeren Weg durch die Stadt zurücklegen. Als ich dann etwas älter wurde, hörte ich mit der Musikerziehung auf, weil ich mir wenig Zeit zum Üben nahm. Ich spielte lieber mit meinen Freundinnen im Freien.
Trotz der erwähnten Zurückweisung besuchte meine Mutter ihre Schwester jeden Sommer. Meist nahm meine Mutter nur eins ihrer Kinder mit, entweder meinen Bruder oder mich.
Die politische Lage in der DDR hatte sich unter Ulbricht zugespitzt, so dass es mein Vater für klüger hielt, nicht in den Westen zu reisen.
Auch in Ungarn waren die Menschen unzufrieden und erhoben sich 1956 in einem Volksaufstand, um einen demokratischen Sozialismus aufzubauen. Man forderte freie Wahlen, Abschaffung der Zensur, Freilassung der politischen Gefangenen, ein Mehrparteiensystem, Bruch mit den Stalinisten und politische und wirtschaftliche Annäherung an den Westen. Obwohl die Mehrheit der ungarischen Nation auf der Seite der Aufständischen war, wurde der Volksaufstand niedergeschlagen.
Im November 1956 fanden schwere Kämpfe statt. Das Schutzbündnis der Sowjetunion über ihre Satellitenstaaten funktionierte. Der Warschauer Pakt, (der am 14. Mai 1955 unterzeichnet worden war), zeigte nun deutlich, dass keiner der Staaten im sowjetischen Machtbereich frei entscheiden konnte.
Unterhielten sich meine Eltern über diese Problematik? Sprach meine Mutter mit ihrer Schwester darüber?
Ich kann mich noch daran erinnern, dass Tante Bärbel einmal ganz stolz auf die freie Meinungsäußerung in der BRD war. Sie meinte, dass man auf der Straße laut „Heil Hitler!“ rufen könne, ohne dass dann etwas passieren würde. Als Kind konnte ich das natürlich nicht richtig werten. Mit der Freiheit war es aber in der BRD auch so eine Sache, denn man verbot am 17.August 1956 die „Kommunistische Partei Deutschlands“. Die für verfassungswidrig erklärte Organisation wurde aufgelöst.
Obwohl Tante Bärbel einen Besuch im kommunistischen Teil Deutschlands immer abgelehnt hatte, besuchte sie uns im Sommer 1957 zusammen mit ihren beiden Töchtern. Sie äußerte bei dieser Gelegenheit, dass es meinen Eltern ja materiell nicht schlechter ginge als ihr selbst im Westen.
Bärbels Ehemann hatte in Amerika auch andere Frauen kennengelernt. Besonders geschmacklos war jedoch, dass er seiner Frau getragene Kleidungsstücke von seinen Geliebten schickte. Es war kein Wunder, dass sich meine Tante nun für einen ehemaligen Arbeitskollegen ihres Mannes interessierte. Er hieß Kai. Sie mochten sich schon seit langem, doch Bärbel hatte zwei kleine Kinder, und ihr Ehemann Hans hatte nicht die Absicht sich von seiner Frau zu trennen. Deshalb heiratete Kai seine Sekretärin und aus dieser Verbindung heraus entsprang auch ein Sohn. Die Situation in der Ehe von Bärbel und ihrem Hans wurde immer unerträglicher. Hans ging Liebschaften ein und kümmerte sich wenig um seine Töchter, er war ja immer noch in den USA tätig. Bärbel ließ sich nun ihrerseits von Hans scheiden und auch Kai trennte sich von seiner Frau mit dem Kind. In ihren Briefen an meine Mutter berichtete Bärbel nun von ihrer großen Liebe. Bärbel und Kai heirateten. In dieser Ehe bekam Bärbel mit 39 Jahren einen gesunden Sohn. Kai übernahm gegenüber beiden Stieftöchtern die Erziehungspflichten. Die Mädchen nannten ihn liebevoll „Daddy“. Kai war auch Physiker mit Doktortitel. Wegen seiner Arbeit zog die fünfköpfige Familie nach Süddeutschland.
Dort besuchten meine Mutter und ich 1960 noch einmal Tante Bärbel. In diesem Urlaub himmelten wir Cousinen die Schlagersänger Conny Froboess und Peter Kraus an.
1961 hatten wir geplant, dass ich zuerst ins Ferienlager fahren sollte und anschließend mit meiner Mutter Tante Bärbel und meine Cousinen Maja und Corinna in Süddeutschland besuchen sollte. Aber es kam alles anders. Die DDR riegelte am 13.August 1961 ihre Westgrenzen sowie die Sektorengrenze in Berlin ab, um die steigenden Fluchttendenzen zu stoppen und das „Ausbluten“ der DDR nun endgültig zu verhindern. Wenige Tage später begann der Bau der Berliner Mauer an der Grenze der Westsektoren zum Ostsektor. Natürlich bekam meine Mutter eine Absage von der Behörde für ihre Reise nach Süddeutschland. Sie konnte das absolut nicht verstehen und protestierte dagegen auf ihre Weise, indem sie dem Behördenangestellten einen „Vogel“ zeigte und ihn temperamentvoll beschimpfte. Zum Glück kannte der Angestellte meinen Vater recht gut, so dass das Verhalten meiner Mutter keine weiteren Folgen hatte. Meine Mutter war nun sehr traurig darüber, ihre Schwester nicht mehr besuchen zu können. Es entwickelte sich nun zwischen Beiden ein reger Briefwechsel. Manchmal stand meine Mutter am Fenster und beklagte sich über Atemnot. Sie erklärte mir, dass sie am liebsten die Thüringer Berge wegschieben würde, um in ihr flaches Norddeutschland zu gelangen. Dieses „beengte“ Gefühl übertrug sich auf uns Kinder, und wir fühlten uns in der DDR eingesperrt.
JUGEND UND FACHHOCHSCHULSTUDIUM
1963 verstarben meine beiden Großtanten, die Schwestern meines Hamburger Großvaters Ottomar. Ich bedauerte den Tod beider Tanten in nur einem Jahr sehr, weil ich brieflich mit ihnen in Kontakt stand. Die ältere war Studienrätin und ihre jüngere Schwester führte ihr den Haushalt.
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