"Hallo, hallo", die Stimme musste schon öfter gerufen haben, ich schaute nur kurz in ihre Richtung und zeigte wieder mit dem Finger zur offenen Haustür. So sah ich Anne das erste Mal, durch einen Tränenschleier sah ich eine junge, sehr schlanke, blasse Frau.
In der Küche hielt ich mein Gesicht unter den kalten Wasserstrahl, und ich strich das letzte Fenster, als der Lärm verebbte und sie mit einem kurzen "Bye" das Haus verließen.
"Fleißig", sagte er, ich mach' was zu essen." Er schaute mich prüfend an, sie hatte es ihm also erzählt.
Nach dem Essen, er schob wieder seinen Stuhl zurück, sagte er nicht irgendetwas, nein, er fing an zu erzählen. Er erzählte mir von seinen Nachbarn, die dort oben hinter der Wegbiegung wohnten. Von den vier kleinen Kindern und von den Eltern. Wie schwer es für sie wäre, eine Arbeit zu finden, hier, so weit weg, ohne Auto. Er beschrieb mir das Haus, er beschrieb mir noch andere Häuser, die weit vom Wege ab im Moor standen. Außen sehen sie ja noch meist recht putzig aus, wenn sie weiß getüncht sind mit ihren bunten Fensterrahmen und Türen. Aber wohn‘ mal da drin, du bekommst Rheuma, Bronchitis und tausend andere böse Krankheiten. Fast jede Familie hat hier ein schweres Schicksal zu tragen. Die Männer kommen ja noch ab und zu aus dem Haus, sie treffen sich im Pub und besaufen sich, aber die Frauen, Mann ich sag‘ dir, selbst, wenn es uns schlecht geht, geht es uns noch „gold“.
Ich wusste, der letzte Satz war für mich ganz persönlich gesprochen. Ich biss hart auf meine Zähne, brachte das Geschirr in die Küche, sagte "bis später", und ging den Weg hoch ins Moor.
Da stand das Haus aus großen grauen Natursteinen gemauert, dicht am grauen Felsen. Winzige, tiefliegende Fenster, die niedrige Tür geöffnet. Am liebsten hätte ich auf dem Absatz kehrtgemacht, aber da hatte mich der Mann schon gesehen. Es war der große knochige aus dem Pub. Mit seinen verlegen grinsenden Jungs kam er zum Weg.
"Na, was macht das Auto?"
"Es ist in der Werkstatt."
"So ein Pech, aber das Wetter ist schön, nicht wahr?"
Um das Haus sah es wüst aus. Eimer und Plastiktüten, unbrauchbares Plastikspielzeug, an der Hauswand lehnten eineinhalb Fahrräder, und direkt neben mir die Reste eines Torfhaufens.
Anne erschien in der Tür, sie trug ein Baby, sie nahm den Arm des Kindes und winkte damit in meine Richtung. Ich winkte zurück und rannte die Anhöhe hinauf.
Oben angekommen befand ich mich auf einem Hochplateau, ich stand wie auf einer Bühne, der einzige Mensch in dieser braun-in-braunen Landschaft. Tiefe Gräben durchzogen das Land, und überall Plastiksäcke mit dem frisch gestochenen Torf. Weit hinten ging das Gelände steil bergab, ich sah die Dünen und das Meer, ich sah den rosaschimmernden Pyramidenberg. Steine gab es in Hülle und Fülle, ich suchte mir einen großen, bequemen aus, ich saß auf einem Riesenhocker. Es ging mir gut, bis mir wieder einfiel, dass es mir „gold“ ging.
Ja, es war mir einmal „gold“ gegangen, wie es dieser blöde Satz sagt. Aber das war schon sehr lange her, und das Gold ist von all den widerlichen Dingen, die ich durchzustehen hatte, verdeckt worden. Dieses Gold wurde mir immer dann vor Augen geführt, wenn ich einen Mann mit zwei Kindern lachen hörte. Dann trieben mir Trauer und Schmerz die Tränen in die Augen. Ich fragte mich, ob ich eines Tages, wenn der Schmerz vorbei und die tiefen Wunden, die ich davongetragen hatte, verheilt sein würden, ob ich dann den Mann, den ich doch einmal geliebt hatte, gerecht beurteilen könnte. Noch war mir ein solcher Wandel unvorstellbar. Noch keine drei Tage war es her, dass ich mir eingebildet hatte, er wäre tot, und sein Tod hatte mich gefreut. In diesen drei Tagen hatte sich nichts geändert.
Als zwölf jähriges Mädchen hatte ich mich in einen Jungen verliebt, der jedes Jahr in unserem Dorf bei Verwandten Ferien machte. Ich tat alles für ihn. Schon immer hatte ich das Gefühl, dass man für Liebe viel tun muss. Für ihn lernte ich die Knie- und Riesenwelle an der Teppichklopfstange. Ich schwamm unter der dunklen Brücke durch und balancierte auf dem Geländer, ich warf mich im Fußballtor dem Ball entgegen. Meine Schwester tat nichts, sie lag auf der Wiese und räkelte sich, und er wollte neben ihr liegen. Ich flüchtete in mein Bett, da hörte ich seinen Schrei, er war barfuß in die Gartenharke getreten. Und in der Küche hörte ich jemanden sagen: "Hoffentlich ist er gegen Tetanus geimpft." Da zog ich meine Bettdecke über den Kopf, und halberstickt weinte ich, ich war unglücklich, weil ich ihn so liebte, und glücklich, weil er nun sterben musste. Es hatte sich also rein gefühlsmäßig nicht viel bei mir getan. Vielleicht hatte ich immer zu viel getan, hatte ich das Wesentliche verpasst? Hätte ich lieber auf der Wiese ... Ich stocherte schon wieder in mir herum. Heute würde ich die Antwort nicht mehr finden, außerdem wurde mir kühl, Wind und Wolken kamen auf. Meine Augen tasteten über das Moor, sie suchten eine Abkürzung. Abkürzungen sind mein Verderben, ich finde immer eine und kann ihnen nicht widerstehen. Der kleine Weg, der mir stundenlanges Fahren auf der Autobahn ersparen soll, wird zur Falle, entnervt und ramponiert komme ich viel zu spät ans Ziel. Aber, wie gesagt, die Abkürzung winkte, schon war ich unterwegs, und im Torfgraben, von Loch zu Loch, von Graben zu Graben arbeitete ich mich vorwärts. Mühselig umging ich die private Müllkippe unserer Nachbarn. Weit verstreut lagen die rotblauen Milchtüten, Konservendosen, Plastiktüten und Flaschen, in dieser auch so schönen Gegend herum.
Da fielen mir seine Worte ein, wie elendig es den Leuten geht, und es dämmerte mir, dass diese Menschen diese Gegend wahrscheinlich verfluchen.
Wieder festen Boden, den Weg unter den Füßen, unter braun verschlammten Turnschuhen. Die Tür der Hütte ist verschlossen, aus dem Kamin des mit Wellblech und Reet gedeckten Daches kräuselt Rauch. Ach, was sah das schon wieder heimelig aus. Dankbar gedachte ich meines Elektroherdes und der Zentralheizung.
Ich rannte den Berg hinunter auf das Haus zu, der Bus war fort, mir wars sehr recht, wenn ich nur gewusst hätte, ob mein Auto fertig war. Mein ganzes Programm hing davon ab. Ich wollte fort, in wollte in ein kleines anonymes Hotel, in dem ich mich ungezwungen bewegen konnte, mich nicht beobachtet fühlte. Ich wollte nicht dankbar sein, ich wollte für Bett und Essen bezahlen, und niemand sollte mir erzählen, dass es mir „gold“ ginge.
"Na, was steht heute auf dem Programm?", sagt er neben mir. Draußen werden die Tannen hin und her geschüttelt, und ich muss ihm gestehen, dass ich noch nicht darüber nachgedacht habe.
"Auf nichts ist mehr Verlass, denk darüber nach, ich jedenfalls muss Torf holen."
"Dann sind wir schon auf dem Weg zum Turm, lass uns zur Küstenstraße fahren."
Er packt die leeren weißen Plastiksäcke, zieht den blauen Fuchs über, und schon fahren wir los. Eine halbe Stunde später liegen die gefüllten Torfsäcke hinter unseren Rücken, und wir fahren die lange Bucht entlang zur Küstenstraße. Wir lassen den Wagen neben der Straße stehen und laufen über den feuchten, schweren Boden zur Küste, auf das kleine verlassene Anwesen zu. Wir gehen zwischen den eingestürzten Gemäuern hindurch, und ich schaue nur kurz auf die erhalten gebliebene Steinbank an der Hausmauer.
Im vergangenen Jahr schien die Sonne, und wir saßen auf dieser Bank. Es war so warm, dass wir die Mützen, die Schals bei Seite legen konnten, wir öffneten die Mäntel und lehnten unsere Köpfe gegen die dicken Mauern. Er hatte die Augen geschlossen, die Brauen zusammengezogen. Selbst im Sonnenschein wirkte sein Gesicht gespannt und angestrengt. Seine Hände waren tief in den Taschen vergraben, und ich wühlte so lange, bis ich seine Hand in der Tasche hielt. Undurchdringlichkeit umgab ihn, ich war nicht anwesend, Lichtjahre war ich von ihm entfernt.
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