„Wir alle haben einen lieben Verwandten, einen guten Freund und einen hervorragenden Wissenschaftler verloren.“
Katja setzte sich aufrechter hin.
„Ich kann mich noch gut an unser erstes Zusammentreffen vor genau neun Jahren und drei Monaten erinnern.“
Er nahm wieder seine Brille ab und hielt sie gegen das Licht.
„Ich war Gastredner während einer Tagung in Dresden und ich hatte noch nicht das Vergnügen, ihn kennen gelernt zu haben. Da ich mich in dem Universitätskomplex nicht auskannte, ging ich am Morgen durch die Flure auf der Suche nach dem richtigen Hörsaal. Es war relativ früh, vielleicht halb acht. Normalerweise ist es zu dieser Zeit sehr ruhig in den Universitäten.“
Der Halbwüchsige mit den wirren Haaren im Gesicht stand auf und ging dem Ausgang entgegen.
Herr Elster fuhr unbeirrt fort. „Wir alle kennen die Vorliebe der Studenten für den morgendlichen Schlaf.“
Hier machte er eine Pause, um dem Publikum Zeit für ein Schmunzeln oder gar leisem Lachen zu lassen.
„Als ich jedoch am Hörsaal sieben vorbeikam, hörte ich ein unglaublich lautes Getöse. Es wurde gerufen und laut gelacht. Ich nahm an, dass dort Studenten herum tobten, vielleicht auf eine Vorlesung wartend.“
Ich sah plötzlich einige Reihen vor mir Hans aufstehen. Er schlängelte sich an seinen Sitznachbarn vorbei dem Ausgang zu. Bei jeder Person entschuldigte er sich, wie ich leise hören konnte. Seine Rockschöße blieben öfters an Stuhllehnen oder Handtaschen hängen, woraufhin seine Entschuldigungen teils noch mit weiteren Worten ausgeschmückt wurden.
„Ich öffnete daher die Tür, um die jungen Leute zur Ruhe zu bringen, und war nicht wenig erstaunt, den werten Kollegen Oster inmitten einer aufgeregten Schar von Studenten zu sehen. Alle diskutierten wild durcheinander, allen voran Kollege Oster. Als sie mich erblickten, trat der Kollege Oster auf mich zu und fragte mich, ob ich einen Moment lang teilnehmen möchte an der Vertiefung von Kennzahlen.“
Hans hatte gerade den letzten Sitz passiert und eilte nun mit weiten Schritten und wehendem Mantel dem Ausgang zu, als Herr Peters sich erhob und sich ebenfalls dem Ausgang näherte. Mein Erstaunen ging in echte Sorge über. Was wollte er von Hans und was, wenn unsere Nachforschungen, bescheiden zwar, aber immerhin, ans Tageslicht kamen?
Herr Elster stockte einen Moment, bevor er weiter fortfuhr. „Er hatte seine Studenten einige Zahlen schätzen lassen, um so die Neugier zu wecken. Wie er mir später einmal sagte, festigte er damit diese Zahlen besser in den Köpfen der jungen Leute. So war er eben, gern dabei, wenn es darum ging, Neues auszuprobieren. Das war unser erstes Zusammentreffen. Daraus sollten noch viele weitere Treffen werden, bis der werte Kollege Oster hier in Kiel die Stelle annahm.“
Ich hatte von dieser Geschichte bisher noch nichts gehört, Katja offensichtlich auch nicht.
„Wie waren denn deine Erfahrungen mit ihm?“, fragte sie mich leise.
„Ich würde sagen, ein pädagogisches Händchen hatte er nicht“, erwiderte ich ebenso leise.
„Ob sich Elster diese Geschichte ausgedacht hat?“
„Psst“, machte Frau Hubertus.
„Na, jedenfalls ordentlich übertrieben, würde ich sagen.“
Ich war mit den Gedanken bereits draußen bei Hans. Sicher traf jetzt Peters auf ihn.
„… aber nicht nur ein großartiger Pädagoge“, hörte ich Elster weiter vortragen, „auch ein vielseitiger Wissenschaftler, der manche kniffelige Frage beantworten konnte.“
Hier ging Elster nicht weiter ins Detail und ich beschloss, auch den Saal zu verlassen. Ich musste eingreifen, bevor Hans in seinem jugendlichen Überschwang etwas Falsches sagte.
„So manches Drittmittelprojekt konnte er für unser Institut gewinnen“, trug Herr Elster gerade vor, als auch ich mich an allen Trauergästen vorbei in Richtung Ausgang vorschob. In Frau Hubertus Blick meinte ich einen echten Vorwurf zu sehen, Katja sah mich eher erstaunt an. Doch auch Herrn Elster blieb mein Abgang leider nicht verborgen.
„Überhaupt, zeigte Kollege Oster viel Geschick beim Umgang mit unseren externen Geldgebern“, sagte er gerade, wobei er mich mit den Blicken bis zum Ende der Stuhlreihe fixierte und in seine Stimme ein Stakkato legte, was mir jedes einzelne Wort um die Ohren fegte. Mit einer Steigerung, die ich in der Mitte der Stuhlreihe nicht für möglich gehalten hätte. Ich bereute meine Entscheidung, als ich endlich den Ausgang erreichte.
Beim Öffnen der Tür, nahm ich aus dem Augenwinkel heraus wahr, dass vorne auch Johann aufgestanden war und behutsam sich dem Ausgang näherte. Ein schwaches Herz hatte Elster nicht. Mit grimmiger Entschlossenheit steigerte er nochmals den Nachdruck in seiner Stimme. Ich verließ den Saal, ohne auf Johann zu warten.
Die Vorhalle war kälter als der Saal und menschenleer. Hans und die anderen mussten also draußen im Schnee warten. Gleich neben dem Eingang fand ich die geflüchteten Trauergäste im Schnee stehen, sich unterhaltend. Der Halbwüchsige mit einer Zigarette im Mund.
„Sie verzichten auf die Rede von Ihrem Professor?“ Herr Peters richtetet gleich das Wort an mich.
Ich winkte ab.
„Die Rede kenne ich schon. Die Ehrungen der Kollegen klingen immer gleich.“
„Werden bei Ihnen häufiger Professoren beerdigt?“, erkundigte er sich sachlich.
„Nein, natürlich nicht, aber irgendwelche Ehrungen finden zwischendurch doch schon mal statt.“
„Aber was macht ihr denn alle hier draußen?“, fragte ich in die Runde, um einerseits von mir abzulenken und vor allem, um schnell zu erfahren, was die drei nun schon besprochen hatten. Dabei sah ich vor allem Hans an, der ein sehr unbekümmertes Gesicht machte. Auffallend unbekümmert.
„Das möchte ich auch gern wissen“, erwiderte Herr Peters mit dem Blick zur Tür, wo gerade Johann herauskam, uns sah und eilig zu uns herüberkam.
Zum Glück antwortete Johann ungewollt für uns alle auf die Frage.
„Was für ein Gesülze! Das hält doch niemand aus!“ Voller Erleichterung sog er die kalte klare Luft ein und wandte sich an Herrn Peters.
„Sie sind doch der Kommissar, der den Todesfall untersucht, wenn ich mich nicht irre, gibt es bei Ihnen auch solche Veranstaltungen?“
„Und Sie sind?“
„Johann Kiekbusch, wir hatten schon kurz das Vergnügen. Als Sie den Toten im Institut in Augenschein genommen hatten“, ergänzte er.
Ich war verblüfft. Johann konnte auch ernsthaft reden. Im Mantel und seinem schwarzen Anzug sah er recht respektabel aus. Wohingegen der kalte Wind wieder um meine Knöchel herum pfiff.
„Mit Ihnen würde ich mich gern kurz unterhalten“, sagte der Kommissar an den Halbwüchsigen gewandt. Dieser zuckte nur die Achseln und spuckte in den Schnee. Der Kommissar sah erwartungsvoll in die Runde bis wir begriffen und uns ein wenig entfernten. Mir war der Gang der Dinge mehr als recht. Ich musste unbedingt erfahren, was Hans schon alles angestellt hatte. Daher war dies auch meine erste Frage, als wir außer Hörweite waren.
„Was hast du dem Kommissar gesagt? Warum bist du dem Halbwüchsigen nachgegangen und überhaupt, auffälliger konntest du dich nicht bewegen?“
„Dem Kommissar habe ich nichts gesagt, dem Stiefsohn deines verstorbenen Professors, falls du den mit 'Halbwüchsiger' meinst, bin ich gefolgt, um in Ruhe mit ihm zu sprechen und auffällig – nun ja, das ist vielleicht Ansichtssache. Jedenfalls haben sich alle gern mit mir unterhalten.“
Hans war ein wenig gekränkt. Ich versuchte durch einen Themenwechsel die Stimmung etwas aufzubessern.
„Kennt Ihr euch? Hans, Johann – Johann, Hans.“
„Hallo.“
„Hallo. Bist du auch bei uns am Institut? Ich glaube, ich habe dich noch nie dort gesehen.“
„Ich habe gerade bei Professor Schmid über den Radumfang von Mähdreschern angefangen zu promovieren.“
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