„WIR HABEN DICH“ war alles, was die Absender ihr mitzuteilen hatten.
Viola Ekström musste sich an die Wand lehnen, bekam dann weiche Knie und sackte käsebleich zusammen.
Als sie wieder zu sich kam, hockte ihre Freundin neben ihr und sah mit besorgtem Blick in ihre Augen. „Hey Ola, was machst Du denn für Sachen?“
Die Angesprochene sah sie mit glasigen Augen an, antwortete aber nicht. Suchend wanderte ihr Blick im Raum herum, aber sie fand nicht, was sie suchte. „Lar?!“ Es waren nur die drei Buchstaben, die unendlich gequält aus ihr herausbrachen, aber der Klang ihres Schreies war so durchdringend, dass selbst den hartgesottenen Angestellten das Blut erfror. Erst jetzt begriff auch die Frau ohne eigene Identität, dass das Kind nicht mehr da war. Mit einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes ahnen ließ, schnellte ihr Körper aus der Hocke nach vorn, um im gleichen Augenblick erst zu erstarren und dann entspannt zusammen zu fallen. Larischka hatte sich ganz brav zur Toilette begeben und war nun, auf den Schrei der Mutter hin, vor dorther zurückgekehrt auf den Flur.
„So geht das nicht weiter!“
Die Frau mit den vielen Identitäten hatte ihr diese Feststellung nur zugezischt, um das Kind nicht aufmerksam werden zu lassen, aber Viola hatte trotzdem verstanden. Sie sah ihre Freundin mit traurigen Augen an und hatte Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken. Sie wusste selbst, dass es so nicht weiter gehen konnte. Aber das hier jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Angelegenheit zu diskutieren. Von hier mussten sie jetzt ganz einfach erst einmal verschwinden und hoffen, dass es ihnen noch einmal gelingen würde, sich für eine Zeitlang unsichtbar zu machen.
Die Frau an ihrer Seite sah das offenkundig ganz ähnlich. Schulterzuckend wandte sie sich dem erschrocken herbeigeeilten Kellner zu und bat ihn höflich darum, ein Taxi zu bestellen.
Damit war erst einmal sicher gestellt, dass sie sich von diesem Ort entfernen konnten, ohne dass bereits die Bestellung des Fahrzeugs von ihrem eigenen Handy aus erfolgen musste und damit das Gespräch entweder mitgeschnitten oder sie zumindest geortet werden konnten. Das bestellte Taxi verließ das Trio bereits wenige Straßenzüge später wieder, um in die Anonymität eines Warenhauses abzutauchen, aus dem sie ebenfalls kaum eine halbe Stunde später frisch kostümiert wieder auftauchten. Dieser Ablauf hatte sich mittlerweile so eingespielt, dass sogar das Kind anfing, ein wenig nölig zu reagieren, weil es keine Lust mehr darauf hatte, immer wieder dieses langweilige Spiel zu spielen. Es dauerte eine weitere knappe halbe Stunde, bis sie nach dem dritten Folgetaxi schließlich am Bahnhof angelangt waren. Dort lösten sie getrennte Fahrkarten nach Turku und bestiegen anschließend ebenso getrennt den Zug, um sich - ganz zufällig - wenig später in einem der nicht reservierten Abteile wieder zu treffen. Tatsächlich war sich Viola nie wirklich sicher gewesen, ob diese Variante der Absetzbewegung mehr Sinn machte als ihr eigenes Gewissen zu beruhigen. Schließlich waren die Möglichkeiten, sich mit der Bahn von Helsinki wegzubewegen, überschaubar und letztlich war da immer ihr kleines Handikap, was die Tarnung ein wenig erschwerte. Auf der anderen Seite sprach die Erfahrung der vergangenen Monate für dieses Verfahren. Schon möglich, dass dieser Erfolg tatsächlich nur darauf zurückzuführen war, dass diejenigen, die dieses Spiel mit ihr spielten, sich entschlossen hatten, ihr von Zeit zu Zeit immer wieder eine kleine Schonzeit zu gewähren. Doch selbst, wenn das so sein sollte, der früheren Mitarbeiterin der Nationalen Sicherheitsagentur halfen diese Phasen relativer Ruhe dabei, ihr seelisches Gleichgewicht wenigstens einigermaßen zu stabilisieren. Andernfalls hätte sie sich möglicherweise bereits längst zu der Lösung entschieden, die sich ihr bei jedem Zug, den sie sah, von Mal zu Mal stärker aufdrängte. Die Zeit im Abteil nutzte sie statt dessen nun dazu, sich ihres schlechten Gewissens wegen der düsteren Gedanken dadurch zu entledigen, dass sie sich als gute Mutter betätigte und ihrer Tochter deren Lieblingsgeschichten vorlas. Erst nachdem Lara eingeschlummert war, entschloss sich die Frau an ihrer Seite dazu, den Gesprächsfaden wieder aufzugreifen. Bis dahin hatte sie schweigend am Fenster gesessen, hinausgeblickt auf die vorbeiziehende Landschaft und versucht, sich von der inneren Angst ein wenig frei zu machen, die auch sie immer wieder überkam, wenn sie es mit Gegnern zu tun hatte, deren wahre Absichten sie nicht zu durchschauen vermochte. Aber sie war Profi genug, um sich von dieser Angst nicht überwältigen zu lassen.
„Sag’ mal, warum drehen wir den Spieß nicht einfach um?“
Viola Ekström sah ihrer Freundin nachdenklich in die Augen, überlegte einen Moment und wischte den Gedanken gleich darauf mit einer Handbewegung weg.
„Das schaffen wir nicht. Die sind zu stark, zu reich, zu mächtig. Die sind die und das weißt du auch.“
„Und wenn wir Verbündete mobilisieren, die ebenfalls stark sind und mächtig?“
Der Frau, die sich in ihrer Jugendzeit Ruth Waldner genannt hatte, war die Lust darauf vergangen, die Suche nach einer Lösung für das Problem ihrer Freundin so ausgehen zu lassen, wie sie in den vergangenen Wochen immer ausgegangen war.
Bereits seitdem sie von ihrem früheren Führungsoffizier und jetzigem Vorgesetzen mit der Mission „Norilsk“ beauftragt worden war und diesen Auftrag zur allgemeinen Zufriedenheit erledigt hatte, saß sie wieder fest im Boot. Dass sie daneben auch im Rahmen des vorangegangenen Einsatzes im Zusammenhang mit den ominösen Aufforderungen zur Sabotage an Kernkraftwerken nicht eben eine schlechte Figur gemacht hatte, trug ebenfalls dazu bei, ihre Freiräume zu erweitern. Konkret bedeutete das in einer Situation, wie der jetzigen, dass sie faktisch mit diplomatischer Identität ausgestattet, sich eine ganze Weile aus ihren eigenen dienstlichen Aktivitäten verabschieden konnte, um das zu tun, was zu tun war. Die Betonung lag auf einer Weile. Offiziell hatte sie natürlich Urlaub.
Aber das bedeutete praktisch eigentlich nur, dass diese Weile stündlich zu Ende gehen konnte und je länger sie andauerte, desto wahrscheinlicher war es, dass genau dieses Ende ganz plötzlich eintreten würde. Auch Viola Ekström war das klar und dennoch unternahm sie nichts, um sich für die Zeit danach zu wappnen. Die junge Mutter fühlte sich in Gegenwart und Begleitung ihrer Freundin ganz einfach sicherer und sah daher keinen Grund, der einen Vorwand dafür zu liefern, sich wieder von ihr zu verabschieden. Die letzten Worte ihrer Freundin ließen sie trotzdem aufhorchen. „Verbündete, die ebenfalls stark und mächtig sind?“ wiederholte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Der Anwerbeversuch erschien ihr derartig plump, dass sie Zweifel hatte, ob die Mitarbeiterin des russischen Inlandsgeheimdienstes das ernst meinen konnte. Doch die Frau an ihrer Seite ließ sich nicht irritieren.
„Genau,“ bestätigte sie statt dessen und ließ weiter offen, was genau sie sich darunter vorstellte.
„Du meinst jetzt aber nicht im Ernst, dass wir Seite an Seite für Frieden und Fortschritt kämpfen sollen, oder?“ Viola Ekström zog es vor, auf den vermeintlichen Vorschlag mit sanfter Ironie zu reagieren, auch wenn ihr im Moment eigentlich gar nicht danach war, dieses Thema zu vertiefen.
Erst jetzt begriff ihre Freundin, wie sie selbst verstanden worden war und reagierte gereizt.
„Also, nun pass mal auf du Mimose. Wir beide wissen doch nun wirklich Bescheid. Du hast keinerlei Skrupel gehabt, für deine Agentur zu schnüffeln und wir beide wissen doch nun auch wohl ganz genau, welch Geistes Kind diese Herrschaften sind. Also komm’ mir hier bloß nicht auf die Moralische.“
Sie legte eine kleine Pause ein, vergewisserte sich, dass ihre Freundin diese Worte nicht „in den falschen Hals bekommen“ hatte und stellte dann klar, dass sie eigentlich „an etwas ganz anderes“ gedacht hatte.
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