Wenn das an dem wäre, dachte sie, so sitzt ihr Stephan gerade mit seinem Großvater unten gemeinsam im Wohnzimmer.
Darüber musste sie nun genau nachdenken, denn sie durfte auf keinen Fall irgendwelche falschen Prognosen stellen, das könnte üble Folgen haben. Völlig in Gedanken versunken vergaß sie die Zeit, als sie plötzlich zu Tode erschreckt herumschnellte.
Die Zimmertüre war leicht knarrend aufgegangen.
Mit aufgerissenen Augen starrte sie Wilhelm Behren an, der leise und vorsichtig hineingekommen war und die Türe wieder hinter sich verschloss.
„Sie betreten dieses Zimmer? Nach dieser langen Zeit Herr Behren? Was hat sie dazu veranlasst?“
„Psst, nicht so laut Veronika, die anderen unten wissen nichts davon. Es ist das erste Mal, dass ich wieder hier bin, nach achtundsechzig Jahren.
Durch ihr Erscheinen heute, habe ich wieder den Mut, mich meinem Leben zu stellen und nicht mehr davon zu laufen!“, flüsterte er und legte den Zeigefinger über seine Lippen.
Dieses ist eine gute Entscheidung von ihm , dachte die Angesprochene. Er durfte nicht davor weglaufen, es war ein Teil seines Lebens gewesen, etwas was ihn all die Jahre verfolgt hatte.
Veronika überlegte kurz und pokerte nun hoch.
„Sie haben sie geliebt, nicht wahr?
Und sie tun es immer noch und sie hoffen bis zum heutigen Tag, dass sie etwas erfahren über sie und sie glauben auch, dass sie dem Krieg nicht zum Opfer gefallen ist, sondern eine andere mysteriöse Geschichte dahintersteckt.
Habe ich Recht, Herr Behren?“ Sie biss sich auf die Unterlippe, denn sie könnte hier gerade voll in den Fettnapf getreten sein, aber genauso konnte es auch umgekehrt der Fall sein, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
Es folgten einige Schweigeminuten und sie beobachtete nun seine Reaktion und erkannte, wie plötzlich Leben in ihm kam. Er setzte sich auf die Bettkante und schaute die Gegenübersitzende an. Tränen füllten seine Augenwinkel und er drehte sich verlegen zur Seite.
Nachdenklich fuhr mit seiner Hand über die Bettdecke. In der Sekunde ahnte Veronika, dass sie das Richtige gefühlt hatte.
Vermutlich wussten hier in diesem Haus alle Bescheid, auch seine Eltern und das war auch einer mit der Gründe, wahrscheinlich, sogar der Hauptgrund, warum Johanna dieses Haus verlassen musste, sie war nicht ebenbürtig gewesen, eine kleine Haushaltshilfe und nicht gut genug.
So nahmen seine Eltern damals andere fadenscheinige Gründe als Entschuldigung dafür, dass sie Johanna nicht mehr halten konnten , dachte Veronika in diesem Moment.
„Wann wurde Stephans Vater geboren Veronika, wissen sie das?“, ängstlich schaute der alte Herr sie an.
Sie räusperte sich und antworte leise:
„Im Februar 1942, Herr Behren!“.
Wilhelm Behren sackte in sich zusammen. Er wirkte plötzlich wie ein gebrochener Mann, denn nun kannte er die Tatsache, dass man Johanna mit einem Kind unter ihrem Herzen hinauskomplementiert hatte, was damals sicherlich niemand geahnt hatte.
Mit seinem Kind unter ihrem Herzen, das machte ihm das Ganze nun noch schwerer, als der Verlust, unter dem er in all den Jahrzehnten gelitten haben musste.
„Als sie damals ging, an dem Tag Ende Juli, sagte sie mir noch, dass sie wieder kommt, am 7. November am Potsdamer Platz zur gleichen Uhrzeit ankommen würde, so wie 1932, als ich sie abgeholt hatte.
Deswegen bin ich voller Hoffnung, obwohl diese von Jahr zu Jahr mehr schwindet. Das alles hat mich aufrechterhalten, der Glaube daran, sie eines Tages endlich wiederzusehen.
Ich habe nie eine andere Frau danach lieben können.“ Traurig hatte er diese Worte gesprochen.
„Herr Behren, sie haben heute einen Teil von Johanna wiedergefunden. Es ist Stephan. Er ist ihr Enkelsohn. Sind sie sich dessen bewusst, dass es für sie ein Geschenk sein muss?
Nicht nur Stephan trat in ihr Leben, sondern auch sein Vater Paul. Er lebt auch in Berlin und ist mit Luise verheiratet. Er ist ihr Sohn Herr Behren.
Können sie das verkraften? Sie selbst sind sehr alt, doch ich glaube, dass diese neuen Umstände ihnen noch ein wenig Glück bringen werden. Sie haben eine Familie, man gab ihnen durch den heutigen Tag die Möglichkeit, einen Teil von sich selbst zu finden und von ihren Nachfahren.
Nun bin ich auch davon überzeugt, dass wir Wege finden, um Johannas Leben weiter zu verfolgen. Vertrauen sie, es wird alles gut. Die Ungewissheit ist vielleicht noch schlimmer, als die Wahrheit zu erfahren, was mit ihr geschehen ist.
Auch wenn es sehr schmerzhaft sein wird, so hätte man wenigstens endlich eine Gewissheit. Ich verspreche ihnen, dass ich und Stephan alles versuchen werden, um ihnen zu helfen. Es hat einen Grund, warum ich mit in diese Geschichte involviert wurde, auch wenn ich diesen selbst noch nicht kenne.“
Sie wusste momentan noch keine Lösung, sprach aber trotzdem diese Worte aus, denn man musste nun alles daran setzen, endlich aufzuklären was seit Jahrzehnten offen stand.
Sie reichte ihm die Hand und streichelte seine. Er war ein sehr, sehr alter Mensch, der Zeit seines Lebens Sehnsucht gehabt haben musste.
Ein schweres Leben mit großer Last hatte er erleben müssen.
„Ich habe etwas für sie Veronika, habe es noch nie jemanden gezeigt und es ist auch versteckt, werde es nun aus einem Nebenraum holen. Der Raum ist mein persönliches Reich indem ich werke und experimentiere.
Vor allem zu früheren Zeiten, als wir noch die Fabrik hatten. Dort schneiderte ich und entwarf neue Modelle. Das bestimmte hauptsächlich mein Leben.
Aber genauso habe ich dort auch meine gewonnenen Pokale aufbewahrt. Es sind Auszeichnungen von meinem Sport, den ich ausübte. Heute bin ich immer noch ein wenig aktiv, trotz meines hohen Alters ist es mir vergönnt geblieben, ein wenig beweglich zu sein, auch wenn sie das nicht für möglich halten.“
Jetzt war Veronika aber neugierig geworden. Erstens auf das versteckte Etwas und zweitens auf den Sport, den er aktiv früher ausgeübt hatte und darum fragte sie ihn auch unvermittelt danach.
„Kanupolo, Veronika. Eine Sportart, die noch nicht so sehr bekannt ist. Doch darüber werde ich ihnen später genauestens berichten. Dazu fehlt heute leider die Zeit.“
Veronika lächelte, denn damit hatte sie jetzt nicht gerechnet und sagte: „Oh ja, Kanupolo. Wie sollte es auch anders sein, was sollten sie wohl auch anderes betrieben haben, als das, was ihr Enkel Stephan auch ausübt?
Darüber werden wir mit ihnen in den nächsten Tagen wohl doch einmal ausführlicher sprechen müssen. Sie sollten wissen, dass mir dieser Sport bisher völlig unbekannt war, bis ich Stephan wiedertraf und er anfing, mir darüber zu berichten.
Seitdem ich mich intensiv mit seiner Geschichte auseinandersetzte, habe ich im Gefühl, dass dieser Sport eine gewichtige Rolle spielt, weil ich denke, dass es eine Verbindung auch über diesen Bereich gibt.
Allein das ist ja nun schon ein erster Beweis dafür, dass sie sich und auch ihr Enkel dem gleichen Hobby widmeten, obwohl dieser ja nun wirklich bei den meisten Menschen, was ich persönlich bedauere, unbekannt ist. Aber er ist ganz schön spannend.
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