1 ...8 9 10 12 13 14 ...21 Veronika hatte sie fragend angesehen und da erklärte die Eisverkäuferin den Grund. „Bei einem Bombenangriff wurde ich verletzt, geriet beim Sturz mit dem Fuß unter einen fallenden Betonstein, der meine Sehnen durchtrennten, darum ziehe ich den rechten Fuß hinterher. Zudem bekam mein Kopf einen Granatensplitter ab.“
Veronika hatte mitfühlend genickt und die ältere Frau hatte weiter gesprochen. “ Dieses Mädchen hier war die Rettung für dein Boot, denn du brauchst es noch. Seit einer Stunde beobachte ich dich beim Paddeln und du musst mir nun versprechen Stephan, dass du bei solch einem Wetter so etwas niemals mehr riskieren wirst.
Ich war bereits auf dem Wege zum Ufer, um dich zu rufen und dich zurückzuholen, doch da sah ich, dass du bereits auf das Ufer zu paddeltest und ich drehte mich herum und ging wieder zurück. Plötzlich hörte ich dich schreien und sah diese junge Dame auf dich zulaufen, die dein Boot, welches gekentert war, mit dir gemeinsam herauszog.“
Veronika starrte weiter dieses Bild an, nahm es in die Hände und sprach nun mit dem Bild.
„Ja, so oder so ähnlich klangen damals ihre Worte. Weißt du Johanna, diese Eisverkäuferin, sie sagte weiterhin zu deinem Enkel, dass er genauso gut im Wettkampf werden würde wie ihr Wilhelm. Bei diesen Worten schaute sie ihn auch lange an und sie wurde nervös dabei.“
Veronika atmete tief durch.
„Wie mein Wilhelm! Ja, das sagte sie, also kannte und hatte sie auch einen Wilhelm, der irgendetwas mit dem Kanusport zu tun gehabt hatte. Viele Zufälle, findest du nicht auch?“
Die junge Frau sprach weiter mit dem Foto hier, als erwarte sie nun darauf eine Antwort von diesem. Nachdenklich nickte sie mit dem Kopf und stellte es zurück auf den Nachttisch.
Irgendetwas hatte sie übersehen oder eventuell überhört in den damaligen Worten der Eisverkäuferin. Sie war ziemlich warm angezogen, hatte einen dicken Schal um den Hals gewickelt, eine Wollmütze auf dem Kopf, Fingerlinge über die Hände gestülpt. Man sah nicht viel von ihrem Äußeren, außer ein wenig von ihrem Gesicht. Es war das Gesicht, das Gesicht mit diesem markanten Grübchen im Kinn.
Schnell riss Veronika das Bild wieder an sich. „Es war das gleiche Kinn, wie du es hast Johanna. Ja Johanna, du musst diese Eisverkäuferin gewesen sein, du hast diese Eissorten selbst hergestellt, auch das hast du damals erzählt. Du hast erzählt, dass du es im Haushalt gelernt hast, wie man kocht und wie man Johannisbeereneis herstellt, weil die Kinder in dem Haus, in dem du arbeitetest, dieses besonders mochten. Johannisbeereneis, wer isst denn so etwas?
Johanna und das Johannisbeereneis. Wenn das wahr ist, so bist du im Krieg nicht verschollen oder doch?
Du wolltest doch zurückkommen am 7. November, eintreffen am Potsdamer Platz, doch du hast Berlin nie verlassen, deine Zieheltern haben das telegrafiert. Du warst verschollen.
Verschollen, weil du dich der Schande mit einem noch ungeborenen Kind nicht aussetzen wolltest. Mensch Johanna!“ Veronika schüttelte das Bild verzweifelt, weil sie keine Antworten bekam.
„Wo bist du hingegangen als du dieses Haus hier verlassen musstest?“
Eilig stellte sie die Fotografie wieder zurück und ging zur Türe, schaltete das Licht aus und ging hinunter. Für heute reichte dieses erst einmal, doch sie spürte, dass hier ganz schön etwas ins Rollen kam.
Sie selbst fühlte irgendwie mit, als wäre sie eine der Betroffenen. Hastig eilte sie die Stufen hinunter und betrat still das Wohnzimmer. Sie konnte sich rege vorstellen, was sich hier nun unten getan haben musste. Der Anblick, der sich ihr hier bot, bestätigte ihre Vormutung.
Stephan wurde hin und her gerückt, gezogen, geknuddelt und betätschelt. Verwirrt, aber auch hilfesuchend schaute er Veronika an. Doch diese lächelte verschmitzt, denn sie konnte die Freude der alten Herrschaften hier absolut nachempfinden. Das war ein Geschenk, welches man ihnen mit dieser heutigen Offenbarung gemacht hatte.
Johannisbeereis im Schnee
Welch eine angenehme Familienzusammenführung und wie glücklich sie alle aussehen. Ich freue mich einfach so sehr für die beiden älteren Herrschaften und auch für Stephan.
Der erste Teil der Großeltern väterlicherseits ist nun geklärt und das in Windeseile, Veronikas Gedanken überschlugen sich förmlich, denn sie war bereits schon einen Schritt weiter, fand kaum Zeit auf diese neue Situation gebührend einzugehen und so kam unverhofft für alle ihre eigenartige Frage.
„Wer aß denn von ihnen allen hier sehr gerne Johannisbeereneis?“ Veronika schmiss diese Frage plötzlich in den Raum.
Erstaunt schwiegen plötzlich alle und schauten sie an und wie aus einem Mund erklang von Wilhelm und Stephan ein einheitliches: „Ich!“.
Veronika nickte, denn das mit Stephan war ihr klar, daran hatte sich scheinbar nichts geändert und nun war da auch noch Wilhelm Behren mit der gleichen Vorliebe.
„Johanna hatte in diesem Hause erlernt dieses Eis herzustellen?“
Mathilde setzte sich wieder auf die Kante ihres Sessels und nickte. Sie war ja als Frau in Sachen Haushalt und Küche involviert und damals als Mädchen musste auch sie hin und wieder dort mit aushelfen, besonders wenn Gäste geladen waren und die Hausmädchen und die Köchin dieses nicht alleine bewältigen konnten. Somit konnte auch sie dieses Eis herstellen.
„Wir haben es ihr beigebracht, doch letztendlich war sie die Einzige, die es beherrschte, das feine Cremige hinzubekommen. Sie war eine Meisterin ihres Faches der Eisherstellung geworden!“ Mathilde schwelgte nun in Erinnerungen und ihre Wangen glühten.
Wilhelm wurde schon wieder übermannt, als er an die früheren Zeiten dachte. Veronika nahm Stephan an die Hand und ging mit ihm hinüber zum Fenster. Sie schauten hinaus in den nass kalten Novemberabend, sahen die Straßenbeleuchtung und beobachteten auch, dass es angefangen hatte zu schneien.
Verschmitzt blickten sie sich an und lächelten und Mathilde und Wilhelm lächelten ebenfalls still vor sich hin, bei dem Bild, was sich ihnen gerade bot. Sie waren beide so stolz auf solch einen wohlgeratenen Enkel.
Veronika presste ihr Gesicht nun gegen die kühle Glasscheibe, um besser hinaus sehen zu können und sagte nachdenklich: „Sag einmal Stephan, dieser Eiswagen damals an der Havel im März 1975, hast du diesen öfter gesehen?“
Erstaunt über diese Frage nickte er und meinte: „Ja, er stand dort immer. Er hatte immer geöffnet, außer im Winter, über viele Jahre. Ich habe ja dort in der Nähe trainiert, unser Vereinsheim liegt nur wenige Meter weiter entfernt. Ich paddelte sehr oft zu dieser Uferstelle und holte mir ein Eis.
Aber ich frage mich allen Ernstes Veronika, wieso er an dem Tag geöffnet hatte, als du mir damals geholfen hattest, mein Kanu aus der Havel zu ziehen. Es war März und verschneit. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, doch jetzt mache ich sie mir, weil es ungewöhnlich war.“
Veronika nickte und bohrte weiter: „Die Eisverkäuferin von damals, war es immer die gleiche oder gab es dort auch hin und wieder jemand anderes im Verkauf?“
„Nein es war immer die alte Isolde. Ich weiß das noch wie heute, denn schließlich war ich ja als Kind ihr Stammkunde.“
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