Mathilde sprang auf und lief aus dem Zimmer.
Stephan schaute ihr verwundert hinterher, doch Veronika ahnte, was sie vorhatte.
„Johanna!“ krächzte Wilhelm mit Müh und Not hinaus.
Stephan schaute seinen Großvater erstaunt an.
„Nein, das ist Isolde!“, verbesserte er ihn.
Ein bedächtiges Schweigen folgte und der junge Mann war irgendwie verwirrt und schaute sich jetzt Isolde auch genauer an, fasste sich ans Kinn und dachte nach.
Da ging die Türe wieder auf und Mathilde eilte hinein. Ihre Wangen glühten wieder.
Demonstrativ setzte sie Johannas Foto neben die Tastatur. Die anderen drei schwiegen und schauten von einem Bild auf das andere. Wilhelm hatte Tränen in den Augen, Veronika kaute nervös auf ihrer Unterlippe, Mathilde ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder und Stephan zog seinen Rollkragen vom Hals, um sich Luft zu verschaffen.
„Wer ist das?“ fragte er. Doch in diesem Moment war ihm klar, dass dieses Bild eine Ablichtung seiner Großmutter in jungen Jahren war. Unverkennbar seine Ähnlichkeit mit ihr, aber auch sah er die Ähnlichkeit mit Isolde, dafür brauchte man kein geschultes Auge.
„Es ist Johanna, nicht wahr? Meine vertraute Isolde ist Johanna, meine eigene Großmutter.“
Beklemmt schluckte er, stand auf und ging ans
Fenster, beugte sich etwas nach vorne, legte nun auch sein Gesicht gegen die Scheibe und stützteseine Hände auf das marmorne Fensterbrett. Dabei atmete er tief durch. Ihm wurde es schummrig. Nun war es also bestätigt und Veronika hatte es durch ihr Gefühl gewusst. Da waren zu viele Details, die das Puzzle zusammengefügt hatten.
Als erster gewann Wilhelm wieder seine Fassung. „Sie ist also immer in Berlin geblieben. Sie verließ nie diese Stadt. Den zweiten Weltkrieg hatte sie zum Glück überlebt.
Doch warum war sie an der Havel?
Warum hat sie sich nie gemeldet bei mir?
Warum kam sie nie zum Potsdamer Platz am 7. November. Wusste sie von ihrem Enkel?“
Fragen über Fragen stürzten nun auf ihn hernieder.
„Ja, sie wusste, dass Stephan ihr Enkel war. Sie kannte ja den Nachnamen ihres Sohnes, Wegemann, Paul Wegemann und es war ihr ein Leichtes zu erfahren, dass Stephans Vater, ihr Sohn Paul war.
Ihr müsst euch einmal vorstellen, der kleine Stephan war ihr Freund geworden, der sich ihr auch anvertraute, so wie es Kinder oft machen, wenn sie einen mütterlichen oder väterlichen Freund finden.
Johanna kannte den Verein Wilhelm, sie wusste von ihrem Sport. Auf Grund dessen, hatte sie sich dort angesiedelt, im Hintergrund, um eventuell zu verfolgen, wie ihr Leben verlief. Sie getraute sich nicht mit ihnen Kontakt aufzunehmen, denn sie war aus diesem Haus hier hinauskomplementiert worden.
Was hätte sie erwartet, wenn ihre Eltern, Herr Behren, von dem Kind erfahren hätten?
Man hätte ihr womöglich unterstellt, dass sie sich mit Absicht an sie herangemacht hätte, um sich in ein gemachtes Nest zu setzen. Nein, sie hatte ihren Stolz und sie kämpfte.
Sie hatte eine Kriegsverletzung, das erzählte sie uns damals, trotzdem ging sie nie wieder zurück, auch nicht zu ihrem Sohn, denn auch da erfuhr sie, dass er, als sie vermisst worden war, von ihrer Freundin adoptiert worden wurde.
Selbst auf ihr eigenes Kind verzichtete sie, denn sie hätte ihm nie ein vernünftiges Leben bieten können. Doch ich sehe das so, dass sie im Hintergrund all ihre Leben hier verfolgte, sie musste die Gewissheit haben, dass es allen gut ging, ihrem Sohn, ihrem späteren Enkel, aber auch ihnen Wilhelm.
Sie genoss diese Treffen mit Stephan, sah ihn aufwachsen, denn so wie ich Stephans Leidenschaft für das Kanupolo kenne, so nutzte er jede freie Minute, um dort zu paddeln. Somit sah sie ihn fast täglich und das über viele Jahre. Das war ihr bescheidenes Glück.“
„Welch ein Schicksal!“, heiser und entsetzt hatte Mathilde diese Worte gesprochen und Veronika stand auf und ging hinüber zu Stephan. Sie nahm ihn in die Arme und streichelte ihm über das Haar. Er benötigte jetzt jemanden, der für ihn da war. Er war geschockt.
„Stephan, wir wissen aber jetzt auch nun, dass es sie glücklich gemacht hatte. Wir werden herausfinden, warum sie nicht mehr kam, das verspreche ich dir.
Es kann wieder ein Schock für dich sein, doch alles ist besser, als diese verdammte Ungewissheit. Lass uns zunächst diese Sache mit Johanna vor deinem Vater verschweigen, lassen wir ihn zunächst in dem Glauben, dass sie im Krieg verschollen ist.
Aber wir können ihm berichten, dass wir durch einen glücklichen Zufall seinen Vater gefunden haben. Das ist doch schon sehr viel oder was meinst du?“
„Sie hat Recht!“, mischte sich Wilhelm ein. Er hat es nie anders erklärt bekommen, als dass Johanna im Krieg eventuell umgekommen ist.
„Wenn er erfährt, dass sie jahrelang euer Leben verfolgt hat und sich nicht zu erkennen gegeben hat, das würde ihn schwer treffen. Lasst ihn bitte deshalb zunächst in diesem Glauben.“
Stephans Augen glänzten unter einem Tränenschleier. Er stimmte dieser Entscheidung zu. Der Tag war so anstrengend für alle gewesen, dass man nun beschloss, ihn zu beenden. Das musste erst einmal alles sortiert werden.
Der junge Mann ging schon in die Diele hinaus, gefolgt von Mathilde, während Wilhelm Veronika noch einmal kurz zurückhielt. Er bat sie, dass sie zunächst das Buch vor Stephan nicht erwähnen solle, denn er war durch diese ganzen Ereignisse heute zunächst genug mit neuen Erkenntnissen konfrontiert worden.
„Ich hätte das sowieso gemacht, denn ich muss dieses erst einmal in Ruhe lesen, um keine falschen Schlüsse zu ziehen. Sie und ich Herr Behren, wir sind stark oder wir müssen es sein, wir werden behutsam an die Sache herangehen und ich verspreche ihnen, es wird eine Klärung geben.
Ich fühle das sich etwas bewegt, auch in mir, ich kann es noch nicht richtig deuten, doch es ist etwas im Anmarsch.“
Herr Behren nahm Veronika in die Arme. Er war so dankbar für das Kennenlernen dieser Frau und er hatte das Gefühl, dass er um Jahre zurückversetzt worden war. Irgendwie hätte er fast sagen können, dass diese Frau etwas mit Johanna gemein hatte.
Sie wirkte so vertraut auf ihn, so einfühlsam, so voller Liebreiz und auch sie hatte eine ganz besondere Ausstrahlung, die aus ihrem Inneren heraus kam. Es waren für ihn sehr viele Parallelen zu erkennen, auch wenn er überhaupt keine Erklärung dafür fand, denn im Grunde genommen war sie eine völlige Fremde.
Essen-Werden, Margrefshof -
7. November 2009 – 17.00 Uhr
„Wir müssen die Historie von dem alten Gutshof durcharbeiten. Es ist wichtig, Christine!“ sagte Burkhard von Weigel zu seiner Frau.
„Lies dir einmal diese Nachricht durch, die ich gestern Abend noch bekommen habe, sie aber erst eben gelesen habe.“ Er startete den PC und öffnete das Programm.
Dabei suchte er eilig eine Mail, die mit einigen Buchungsanfragen herein gekommen war. Doch diese war keine Anfrage, ob ein Zimmer zu einem bestimmten Zeitpunkt frei wäre, sondern es war ein privates Anliegen.
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