„Ich werde Hippoline nähen Stephan. Das Innenleben muss aber zuvor wieder richtig verteilt werden. Sieh einmal, die ganze Füllung ist verschoben.“ Sie drückte ein wenig hin und her und versuchte mit einem Zeigefinger durch das Loch greifend, die Füllung zurechtzuziehen.
„Autsch, da hat aber etwas gerade gestochen. Es ist etwas Hartes darin.“ Sie bohrte vorsichtig tiefer und ertastete etwas, was sich wie Papier anfühlte. „Hole mir einmal eine Schere bitte. Ich werde die Naht auftrennen, denn ich glaube in ihrem Bauch steckst etwas.“
Eilig holte Stephan die Schere obwohl ihm das jetzt in der Seele wehtat Hippoline einen Schnitt zu verpassen. Aber es war ja nur die Naht, diese konnte man nähen und danach würde sie wieder wie neu sein. Das beruhigte ihn etwas. Vorsichtig trennte Veronika sie soweit auf, bis ihre Hand hinein passte. Nach wenigen Sekunden zog sie einen zusammengefalteten Zettel aus dem Bauch des Stofftieres hervor. Vorsichtig legte sie Hippoline beiseite und überreichte Stephan dieses Blatt.
Er schluckte, denn es war ihm schon mulmig, dass er nach drei Jahrzehnten eine Botschaft von Johanna fand.
„Lies du es bitte, ich bin zu aufgeregt.“
Veronika war es aber auch eigenartig geworden, doch mutig faltete sie das Blatt auseinander. Es war nicht nur eines, sondern zwei ineinander liegende Blätter.
8. September 1978
Lieber Stephan,
ich glaube, dass viele Jahre vergehen werden, ehe du diesen Brief finden wirst, denn ich weiß, dass Du nun in einem Alter bist, wo Du dieses Geschenk ganz schnell beiseitelegst, weil es Dir nicht altersgemäß erscheint.
Mit Absicht schenkte ich Dir dieses, denn ich möchte, daß Du erst viel später die Wahrheit erfährst, denn jetzt bist Du noch zu jung.
Es wird der Tag kommen, da wirst Du Dich aber wieder an dieses Stofftier erinnern und ich bete zu Gott, dass Du das Flusspferd noch in irgendeiner Kiste als Erinnerung an mich aufbewahrt hast.
Ich habe nachgeforscht, es ließ mir kei ne Ruhe, ich wollte, daß Du dieses Mädchen wieder triffst, Du weißt doch, das Mädchen, was Dir damals half, Dein Boot aus dem Fluß zu ziehen.
Ich habe in Duisburg alle Schulen durchforstet, bis ich die Auskunft bekam, wer sie ist und wo sie lebt. Hier ist ihre jetzige Adresse:
Veronika Dupont
Nelkenweg 8
Duisburg
Ich habe eine sehr lange und harte Geschichte hinter mir und ich möchte, dass Du diese Geschichte kennst, denn wir beide haben viel gemeinsam. Du warst mir nicht nur ein guter und treuer kleiner Freund, sondern viel mehr. Du hast mir ein Stück meiner selbst geschenkt, weil Du immer Momente Zeit für mich hattest.
Das alles wirst Du verstehen, wenn Du über mein Leben alles erfahren hast. Ich werde nicht mehr lange hierbleiben können, vielleicht noch wenige Monate, vielleicht noch ein oder zwei Jahre, dann muss ich einen Platz finden, an dem ich mich zur Ruhe setzen kann. Das wird für mich eine sehr schwere Zeit werden, denn ich werde etwas verlieren, was mir sehr wichtig war.
Du wirst mir fehlen, doch ich weiß nun, dass Du auf einem guten Wege bist und ich mir keine Sorgen machen muss. Ich weiß, dass es Deiner Familie gut geht, auch wenn es bei Dir und Deinem Vater etwas sehr Trauriges gibt. Aber ihr habt Euch, ich hatte niemanden auf der Welt, musste mich oftmals alleine durchkämpfen, doch Du hast mir viele Jahre das Gefühl gegeben, dass ich eine Heimat habe.
Ich weiß nicht, wann dieses Mädchen wieder in Dein Leben treten wird, doch Du wirst sie wiedererkennen. Sie wird eine Botschaft erhalten.
Ihr werdet etwas herausfinden, was Euch sehr beschäftigen wird, doch ihr werdet verstehen. Veronika wird nicht eher Ruhe geben, bis sie alles aufgedeckt hat, weil sie Dir helfen muss, auch ihrer selbst willen. Ich habe mein Leben in einem Buch aufgeschrieben. Dieses habe ich an einen Buchverlag geschickt und es veröffentlichen lassen. Du kannst es in jeder Buchhandlung kaufen, wenn Du magst.
Der Titel lautet:
Ankunft Berlin, Potsdamer Platz 1932
Es beschreibt meine eigene Biografie und das Erlebte, was ich hinter mir habe. Es wurde in diesem Jahr erstmalig veröffentlicht. Namen und Personen habe ich belassen, ich meine damit die Vornamen, doch die Nachnamen habe ich aus persönlichem Schutz der Menschen geändert.
Ich hoffe so sehr, wenn Du diesen Brief hier eines Tages findest, dass es auch noch mein Buch irgendwo zu kaufen gibt oder nachzubestellen ist, damit Du alles verstehen wirst, was geschah.
In Gedanken werde ich immer bei Dir sein, bei Deinem Vater, bei meinem Wilhelm und auch bei seiner Schwester Mathilde. Ebenso bei meiner alten Freundin Else Knippertz aus den Hackeschen Höfen, denn ohne ihre Hilfe, hätte Paul nie solch ein gutes zu Hause bekommen. Sollten diese Menschen alle noch leben, wenn Du das hier findest, bitte grüße sie herzlichst von mir.
Übrigens mein Wilhelm ist auch Dein Wilhelm. Dein sportliches Vorbild Wilhelm Behren.
Sei Dir eines gewiss, ich werde Dein Leben weiterverfolgen, aber aus dem Hintergrund. Somit werde ich immer wissen, wie es Dir geht, aber ich muss wirklich in der Zurückhaltung bleiben. Man würde mir niemals verzeihen, warum ich mich nicht mehr gemeldet habe, aber die Situation damals erforderte es so und später konnte ich es einfach nicht, ich meine, mich zu erkennen geben. Vermutlich hätte man mich nicht verstanden. Es war nur zu Eurem Besten. An Dir konnte ich wenigstens wieder einiges gut machen und das macht mich glücklich.
Veronika Dupont wird eine große Rolle in Deinem Leben spielen, das habe ich damals schon gespürt, so wie ich viele Dinge vorausgeahnt habe.
Wie gesagt, ich werde noch oft in Deiner Nähe sein, doch Du wirst mich nicht sehen. Was kannst Du auch mit der Gesellschaft einer alten Eisfrau anfangen?
Ich habe nun noch ein Geschenk für Dich. Ich schreibe Dir hier das Rezept für das beste Johannisbeereneis der Welt auf. Bitte doch Veronika, es Dir einmal zuzubereiten, sie wird es sicherlich sehr gerne für Dich herstellen.
350 g Johannisbeeren
150 ml süße Sahne
50 ml Milch
120 g Zucker
Zubereitungsanleitung:
Beeren waschen, mit Milch und Zucker verrühren und pürieren. Sahne steif schlagen und unter die Johannisbeerenmasse heben. Alles für 30 Minuten in einer Eismaschine verarbeiten.
Nun wünsche ich Dir und auch Dir Veronika alles Gute für Euren Lebensweg, ich gehe doch recht in der Annahme, dass sie dieses hier gerade mitliest oder?
Herzliche Grüße und Umarmung
Johanna Wegemann oder Isolde, so wie Du mich kennst
Veronika legte still den Brief beiseite und schaute Stephan mit großen Augen an. „Das ist unglaublich Stephan! Das träume ich hier jetzt gerade alles oder?“
Der junge Mann war wie im Trance und nahm das Stofftier zur Hand. „Hippoline, warum hast du mir in all den Jahren kein Zeichen gegeben? Nun können wir versuchen, dieses Buch noch irgendwo aufzutreiben und das vermutlich in irgendeinem Antiquariat. Darin werden wir erfahren, was in der Zeit zwischen 1932 bis 1978 geschehen ist.
Читать дальше