Stillschweigend folgten diese der Aufforderung und Stephan hakte sich nun bei seinem Vater unter und begleitete ihn zum Kamin. Als sie vor Wilhelm standen herrschte zunächst einmal ein betretenes Schweigen. Herr und Frau Wegemann erkannten nun auch hier, dass der Mann ihnen gegenüber ebenfalls Tränen in den Augen hatte.
Verlegen drehte Paul sich noch einmal herum und schaute Mathilde an, denn er fand keine Erklärung, warum diese Menschen hier anfingen zu weinen, nur weil er und Luise in dieses Haus als Gäste kamen.
Er konnte sich absolut keinen Reim darauf machen und auch nicht verstehen, weshalb sein Sohn ihn hierher geführt hatte.
„Vater, du musst nun sehr stark sein!“, begann Stephan leise.
Luise spitze die Lippen und streckte ihren Kopf in die Höhe, als sie dieses hörte. Sie hatte also recht gehabt, eben im Auto mit ihrer Vermutung, dass Überraschungen meistens nichts Gutes bedeuten, denn das, was sich hier gerade abspielte war sehr bedrückend, auch wenn sie noch nicht einmal ahnte, warum ihr Paul nun sehr stark sein musste.
Sie schaute Veronika an, um irgendetwas in ihrem Gesicht zu ergründen, doch diese lächelte ihr nur aufmunternd zu und nickte.
Paul sah seinen Sohn an und anschließend wieder Herrn Behren. „Vater, ich möchte dir hier Herrn Behren vorstellen, Behren Textil in Charlottenburg, vielleicht sagt dir das etwas?“
„Ja, Behren Textil sagt mir etwas. Während des Krieges war die Firma unter der Leitung der Wehrmacht gefallen, doch nach dem Krieg wurde diese wieder umgerüstet und erwarb sich einen sehr bekannten Namen in der Textilbranche und das bis zur heutigen Zeit.
Soweit ich informiert bin wurde sie später an einen großen Modemacher verkauft, der aber den ursprünglichen Namen, das Markenzeichen der Firma sozusagen, übernommen hat. Ich war bis vor wenigen Jahren auf dem Finanzamt in Charlottenburg tätig Herr Behren, daher ist mir ihr Firmensitz bekannt. Verzeihung, die Steuergelder, aber…!“
Er erkannte mit einmal, dass dieses hier wohl nicht das Thema war und schwieg betroffen, denn er spürte, dass hier etwas Ernsthafteres in der Luft lag.
„Vater, ich möchte dich mit deinem Vater bekannt machen. Wilhelm Behren hier ist dein leiblicher Vater!“ So nun war es endlich heraus.
Wilhelm schluckte, Paul starrte diesen verwirrt an und danach seinen Sohn. „Was sagst du da Stephan? Behren ist mein Vater?“ Seine Knie wurden weich und Luise hatte sofort die Situation unter Kontrolle und klammerte sich an ihren Mann von der anderen Seite, um ihm beizustehen.
„Sie sind mein Vater? Seit wann? Ich, ich… meine, woher wollen sie das wissen? Seit wann wissen sie es und du Stephan, seit wann ?“ Er war etwas lauter geworden.
Nun sprach Wilhelm ruhig und sehr bedacht. „Seit gestern Paul, seit gestern weiß ich es erst. Ich habe bis gestern nicht gewusst, dass ich überhaupt einen Sohn habe.“
Mathilde hielt sich die Hand vor dem Mund, um sich zum Stillhalten zu zwingen. Stephan griff nun mit ins Geschehen ein und bat alle Platz zu nehmen. Etwas durcheinander folgten sie seiner Aufforderung. Es schien, als stünden sie alle unter einem Schock.
„Ich hatte nie einen Vater, nur einen Adoptivvater, aber auch hatte ich nie eine Mutter, nur Else Knippertz, meine Ziehmutter. Sie erzählte mir, dass meine leibliche Mutter im Krieg umgekommen ist. Ist das wahr?“
Ein schwieriger Moment war gekommen, ein kritischer Moment. „Herr Wegemann, ihre Mutter ist seit 1943 verschollen, das stimmt, da verlor sich ihre Spur, zeitweise aber auch zwischen dem Juli 1941 und dem Februar1943 kann man ihre Zeit nur vage rekonstruieren.
Was danach geschah steht alles offen im Raume, doch Herr Behren wird alles daran setzen, die Sache aufzuklären. Bitte Herr Wegemann hören sie mir zu. Bis gestern ahnte weder Stephan noch Herr und Frau Behren hier, noch ich, dass wir jemals etwas erfahren würden.
Durch meine schicksalhaftes Wiederbegegnung mit ihrem Sohn Stephan, kamen wir auf die Spur ihrer Mutter, auf Johannas Spur.“ Veronika hatte leise die ersten entscheidenden Worte gesprochen.
Paul Wegemann stand auf und ging um den Tisch und beugte sich in die Hocke vor seinem Vater. Veronikas Worte hatten ihn angesprochen. Dadurch war ihm klar geworden, dass alle Menschen hier in diesem Raum mit einer völlig neuen Situation in ihrem Leben konfrontiert worden waren.
„Vater, bitte verzeih, dass ich eben so geschockt war. Wenn man nach siebenundsechzig Jahren plötzlich einen Vater bekommt, endlich seine Wurzeln entdeckt, das ist wie ein Wunder. Ich fühlte mich als halber Mensch, weil ich nicht wusste woher ich kam.
Der Namen meiner Mutter Johanna ist mir ein Begriff, denn Else Knippertz hatte mir ja das wenige, was sie von ihr wusste, erzählt. Das ist aber auch nicht viel, denn Johanna hat ihr gegenüber auch nie den Namen meines Vaters erwähnt. Sie wollte ihn, dich Vater, vermutlich schützen.“
Wilhelm Behren schaute seinen Sohn traurig an und streichelte ihm über den Kopf. „Ich verstehe das auch nicht und glaube mir, hätte ich dieses geahnt, ich hätte alles daran gesetzt, dich zu finden. Ich habe sie geliebt, ich liebe sie heute noch. Diese Ungewissheit macht mich schier wahnsinnig.
Meine Eltern sind wohl dahinter gekommen, dass wir ein Paar waren und da haben sie mit fadenscheinigen Ausreden Johanna praktisch hinauskomplementiert, ohne mit uns darüber zu sprechen. Doch Johanna und ich, wir hatten uns einen Treffpunkt ausgemacht, es war der Potsdamer Platz am 7. November, nachmittags gegen 15.00 Uhr.
Man schickte sie zurück in ihre Heimat an den Baldeneysee, doch wir wollten es nicht zulassen, dass man uns nicht trennte und deshalb vereinbarten wir dieses Treffen für wenige Monate später. Seit vielen Jahrzehnten fahre ich jährlich zum erwähnten Zeitpunkt an den Potsdamer Platz, doch erfolglos.
Sie ist nie zurückgekommen. Aber auch im Ruhrgebiet kam sie 1941 nie an. Es verlor sich für uns jegliche Spur. Wir waren der Meinung bis dato, dass sie dem Krieg zum Opfer gefallen war, doch jegliche Suchaktionen scheiterten.
Erst gestern ging ich wieder mit dem Begrüßungsschild von 1932 zum Potsdamer Platz. Doch auch da kam sie nicht an. Stattdessen wurden die beiden jungen Leute hier auf mich aufmerksam und sprachen mich an. Es war für mich, als wäre Johanna durch diese Begegnung neu geboren worden. Ich habe sie nie vergessen können und zudem habe ich nie wieder eine andere Frau geliebt.“
Die beiden Männer erhoben sich und umarmten sich. Luise Wegemann und Mathilde Behren weinten still. Stephan und Veronika rückten auf dem Sofa ganz eng beieinander und hielten sich an den Händen. Die Szene, die sich hier abspielte, war wie in einem Film. Wie am Tag zuvor abgesprochen, ersparte man aber Paul Wegemann die Geschichte von Johanna und dem Eiswagen.
Er musste dieses hier erst einmal verarbeiten. Es wurde ein sehr langer Nachmittag im Hause der Behren und zum Schluss führte man die Gäste hinauf in Johannas Zimmer.
Als sie die Treppenstufen hintereinander bestiegen, glich das Ganze einem Trauerzug. Alle schwiegen und waren in ihren eigenen Gedanken versunken. Oben angekommen, standen sie betroffen weiterhin still. Im Halbkreis versammelt, ließen sie alles auf sich wirken.
Mathilde nahm Johannas Foto in die Hand und reichte es an Paul Wegemann. Dieser nahm es zögernd in die Hand und schaute es an. Nun kamen ihm die Tränen, denn er sah zum ersten Male in seinem Leben das Bild seiner Mutter. Luise hakte sich wieder bei ihm unter, um ihm Halt zu geben. Immer wieder fiel sein Blick auf seinen Sohn Stephan, der seiner Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
„Johanna lebt noch!“
Diese Worte vernahmen plötzlich alle Anwesenden aus dem Munde von Veronika. Stephan starrte sie an. Wie konnte sie so etwas felsenfest behaupten? Wie konnte sie eine vage Vermutung in den Raum werfen, wo doch dieses Hoffnung schüren würde?
Читать дальше