1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Ich bin sehr berührt.“ Sie faselte alles, was ihr so gerade in den Sinn kam, vermutlich hatte sie das noch gar nicht richtig verstanden. Urplötzlich sprang sie förmlich aus dem Sessel und riss Stephan nun auch besitzergreifend an sich.
„Komm her mein Junge, lass dich umarmen und herzlich willkommen in unserer, nein deiner neuen Familie.“
Stephan wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er wurde von beiden immer hin und hergezogen. So etwas Bewegendes hatte er noch nie erlebt.
Veronika hatte Wilhelm sehr nachdenklich hinterhergeschaut, als er den Raum verlassen hatte und nahm wieder im Sessel Platz. Was für ein Tag war das nur heute. Sie musste also Stephan begegnen, damals so wie heute.
Das war also schon vor über dreißig Jahren so vorbestimmt gewesen und genau in dieser einen Sekunde, als sie Ende Mai vor ihrem PC gesessen hatte, ihn sah und in seinem Gesichtsausdruck etwas erkannt hatte, genau das hat sie auf einen Weg gebracht, der nun hier in einem fremden Haus in Berlin erst einmal für kräftige Neuigkeiten gesorgt hatte, womöglich sogar zu einer Klärung führen würde, auf die einige Menschen hier in dieser Stadt seit Jahrzehnte warteten.
Welchen Grund hatte es gehabt, dass sie ihn als vierzehnjähriges Mädchen kennenlernte? Berlin hat weit über drei Millionen Bürger und ausgerechnet sie, eine damalige Touristin, musste zu der richtigen Sekunde am richtigen Ort sein, um ihm zu helfen?
Alle Klassenkameraden waren mit den Lehrern unterwegs gewesen und zwar in den damaligen Osten, nur sie nicht.
Sie hatte sich gesträubt, hatte es vorgezogen in ihrer Jugendherberge zu bleiben, weil sie ein ungutes Gefühl gehabt hatte über den Checkpoint Charly den Osten zu betreten. Sie hatte Angst davor gehabt, ja sie hatte große Angst gehabt, warum auch immer.
Dieses beklemmende Gefühl, sie hatte nie darüber nachgedacht, warum es so gewesen war. Sie wusste nur von Kindesbeinen an zu sagen, dass sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen konnte.
Irgendetwas hatte sich für sie damals nicht gut angefühlt, also bettelte sie ihren Lehrer an, ja sie flehte fasst, dass er sie beruhigt in der Herberge zurücklassen konnte, sie würde sich gut benehmen und ein wenig spazieren gehen.
Er hatte sich darauf eingelassen, sie angesehen und mit dem Kopf genickt, vielleicht hatte er sie sogar verstanden. So war sie also zurückgeblieben und ging an der Havel spazieren, alleine im Schnee, es war der 17. März 1975.
Und dort war sie diesem kleinen Jungen begegnet, der nun hier unten als ein erwachsener Mann in einem ihr völlig unbekannten Haus im Wohnzimmer saß und darauf wartete, dass sie wieder zu ihm hinunter kommen würde. Doch sie saß hier stock steif und übermannt von all den Informationen, die sie heute erhalten hatte über Menschen, mit denen sie zuvor noch nie etwas zu tun gehabt hatte, doch war es wie ein Band, was sie einander fesselte.
Sie spürte einen Sog, als sie sein Bild im Netz sah, als er ihr seine Geschichte später gemailt hatte, als er angefangen hatte von Johanna zu berichten, von seinem Sport, von der verzweifelten Suche nach seinen Wurzeln, die noch vor der Geburt seines Vaters gewachsen waren.
Was hatte sie mit dieser Geschichte zu tun? Warum hatte Frau von Heyden ihr dieses aufgetragen, warum ihr gerade? Warum so weit weg von ihrer eigenen Heimat? In Sekunden schossen ihr diese Gedanken alle durch den Kopf, offene Fragen, auf die es keine Antwort zu geben schien.
Sie sah sich wieder mit Stephan am Eiswagen stehen und wieso stand ein Eiswagen mitten im März an der Havel? Und wieso paddelte ein Junge in der eisigen Kälte in diesem Fluss zu dieser Jahreszeit?
Es war noch tiefster Winter in Berlin gewesen, es hatte Neuschnee gegeben, obwohl der Frühling kurz vor der Türe gestanden hatte. Nein, eingebildet hatte sie sich das nicht mit dem Eiswagen. Stephan hatte es ihr eben noch einmal erzählt.
Sie kniff die Augen zusammen, denn plötzlich wusste sie, dass man sie damals schon mit dem Kanupaddeln konfrontieren wollte, darum musste sie Stephan auch kennenlernen, einen Jungen, den man nicht davon abbrachte, selbst Eispaddeln zu machen, in der Havel, die zwar nicht zugefroren war, doch eisiges Wasser gehabt hatte.
Ein Junge, der großes Glück gehabt hatte, damals nicht zu kentern, er wäre erfroren. Womöglich haben seine Eltern von dieser Aktion überhaupt nichts gewusst. Als er ausgestiegen war, hatte sein Boot so stark geschaukelt, dass es innerhalb weniger Sekunden voll Wasser gelaufen war.
In diesem Moment war sie auf ihn getroffen, beobachtete dieses schon von weitem und lief eilig zu ihm hinüber, damit er sich nicht alleine daran machte, das Kanu zu retten.
„Was machst du hier? Zu dieser Jahreszeit auf der Havel in einem Kanu?“, hatte sie ihn zur Rede gestellt. Doch der kleine Junge hatte sie selbstsicher angeschaut und geantwortet, dass er trainieren müsse. Trainieren, um genauso gut zu werden, wie Wilhelm.
Veronika sprang aus dem Sessel und drehte sich nervös im Kreis. „Wie Wilhelm!“, hatte er gesagt. Ja sie erinnerte sich nun wieder genau an diese Worte. Wilhelm war also sein damaliges Vorbild gewesen.
Egal, wer dieser Wilhelm gewesen war, für Veronika war es nicht wichtig gewesen, doch jetzt, jetzt war Wilhelm wichtig, ganz wichtig sogar.
Doch das war immer noch keine Erklärung dafür, warum es diesen Eiswagen gegeben hatte, mitten im Winter am Ufer der Havel und sie dieses Eis geschleckt haben, obwohl ein heißer Kakao ihnen mit Sicherheit wohler getan hätte.
Das hatte sie nicht geträumt. Sie hielt ihre linke Hand vor den Mund und schaute sich im Zimmer um, als würde sie hier nach einer Antwort auf all ihre Fragen suchen. Das Ganze beschäftigte sie jetzt sehr, denn sie hatte genug erlebt in den letzten Monaten, was teilweise unerklärlich war, doch das hier musste sie jetzt geklärt wissen.
Veronika rekonstruierte noch einmal den damaligen Ablauf des Treffens und holte sich in Gedanken den Eisverkäufer in den Sinn, insofern ihr das jetzt noch möglich war. Sie starrte dabei auf Johannas Foto auf dem Nachttisch und biss sich auf die Unterlippe und fragte sich währenddessen, wie alt denn Johanna damals 1975 gewesen sein musste, sollte sie da noch gelebt haben.
Sie war 1916 geboren worden, also musste sie im Alter von neunundfünfzig Jahren gewesen sein.
Das war es, diese Johanna muss einfach noch gelebt haben und der Blick, den ihr nun diese Augen von diesem Foto hier entgegenwarfen, bestätigte dieses.
Vielleicht bildetet sie sich das alles ein, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf, nein, das bildete sie sich nicht ein, denn langsam wurden ihr die Momente immer präsenter, als sie damals mit der Eisverkäuferin über die Sorten sprachen, die sie im Angebot hatte.
Es waren nämlich komischer weise nur drei Sorten gewesen. Eissorten, die nicht unbedingt Veronikas persönlichen Geschmack trafen, sondern eigenartigerweise aber Stephans. Es war Nuss, dazu Himbeere und Johannisbeere.
Ja und weil sie damals nicht begeistert war und Stephans Augen aber leuchteten fiel ihr das jetzt wieder ein. Auch das die Verkäuferin etwas zu Stephan sagte, was ihr damals auch nicht so wichtig erschien, doch nun. „Du hast Glück gehabt mein Junge, dass dir diese junge Dame hier geholfen hat. Ich konnte nicht so schnell, weil ich eine Kriegsverletzung habe und sehr stark humpele, wie du weißt.“
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