„Erzähle du es ihnen Mathilde, mich wühlt es zu stark auf!“, schluckte Herr Behren schwer und schwieg.
Nachdem der Tee serviert worden war, schauten alle nun gespannt Mathilde an. Stephan rückte etwas näher an Veronika, er hatte Angst und ein ungutes Gefühl breitete sich in ihm aus. Er war froh, dass Veronika spürte, wie er sich fühlte und so legte sie ihre Hand auf seine, um ihm das Gefühl zu geben, dass er nicht alleine war und sie ihm beistand.
Nun begann Mathilde leise und mit Bedacht ihre Geschichte zu erzählen.
„Es war der 30. Juli 1941 als Johanna unser Haus verlassen musste. Auf Wunsch unserer Eltern, die dieses bestimmt hatten, wurde sie aus dem Dienst in unserem Haushalt entlassen. Ich erfuhr nur noch von ihr, dass sie wieder zurückgehen würde ins Ruhrgebiet, denn hier in Berlin hätte sie keine Chance.
Es war Krieg und sie wollte heimkehren zu dem Gutshof, von dem sie 1932 gekommen war. Unsere Tuchfabrik war enteignet worden, wir konnten uns keine Haushaltshilfe mehr leisten. Mit Müh und Not hatte man noch ein Eisenbahnbillett bekommen, damit sie bis nach Essen reisen konnte. Per Telegramm wurden ihre Zieheltern informiert.
Wenige Tage später bekamen wir ein Telegramm von ihnen zurück, dass Johanna nie dort angekommen sei. Sämtliche Suchaktionen scheiterten, sie war nicht auffindbar, weder hier in Berlin noch im Ruhrgebiet.
Zudem herrschte ja wie gesagt Krieg und niemand hatte bei den Behörden auch wirklich Zeit, sich intensiv um eine Suche zu kümmern, dafür gab es schon zu viele Vermisste mittlerweile.“
Mathilde Behren legte eine Pause ein und ließ das alles zunächst einmal auf ihre Gäste wirken.
Stephan schaute Veronika an und schluckte. Ihm war nun eines klar und er meinte: „Johanna muss noch mindestens ein dreiviertel Jahr in Berlin verbracht haben, ehe sie endgültig verschwand, denn ihre Spur verlor sich um genau zu sein in der Nacht zum 2. März 1943.
Das haben wir von Else Knippertz erfahren, einer damaligen Freundin und Nachbarin in den Hackeschen Höfen, in der wohl auch meine Großmutter eine Zeit lang gelebt hatte. Else adoptierte später meinen Vater, damit er nicht in einem Waisenhaus untergebracht werden musste.“
Still saß man nun im Wohnraum der Geschwister Behren und jeder hing seinen Gedanken nach. Da meinte Herr Behren: „Lassen sie uns doch morgen noch einmal hier zusammenkommen und wir erzählen ihnen über das Leben von Johanna, als sie ihre Zeit in unserem Haus hatte.
Das war heute schon so viel an neuen Informationen, auch für uns, dass wir es erst einmal ruhen lassen sollten, um vielleicht gemeinsam einen Weg zu finden, die Sache endlich aufzuklären.“
Stephan nickte zustimmend, denn auch er fand diesen Vorschlag angebracht und er schaute Veronika an, was sie dazu sagen würde. Diese aber kniff ein wenig die Augen zusammen, als überlegte sie gerade stark etwas. Sie fragte folgendes, eigentlich zum Erstaunen der anderen, denn sie war schon ein Stück weiter, vermutlich weil sie nicht nur mit Worten etwas anfangen konnte.
Sie benötigte ein Feeling und ein Umfeld, wo Menschen gelebt haben, sie wollte die Energien noch spüren, die ja in der Materie hinterlassen werden, auch wenn ein Mensch längst nicht mehr physisch anwesend war: „Gibt es noch das Zimmer hier in diesem Haus, in dem Johanna damals gelebt hat?“
Mathilde Behren glühte förmlich und nickte: „Ja, es befindet sich im oberen Geschoss, das ist die 2. Etage, ein Mansardenzimmer. Wir haben nach ihrem Auszug nie den Mut gehabt, es auszuräumen oder umzugestalten. Später, nach dem Krieg, haben wir beschlossen, es so in dem Zustand zu belassen, wie sie es damals verlassen hatte, ihr zum Angedenken.“
Das war mehr als Veronika sich in diesem Moment erhofft hatte, denn genau das war super wichtig für sie, so konnte sie dieses Zimmer auf sich wirken lassen als hätte Johanna es gerade erst verlassen. Sie biss sich auf die Unterlippe und schaute die Geschwister Behren fragend an, mit der Bitte in ihren Augen, ob sie vielleicht nun zum Abschluss des Gespräches bereit waren, ihnen das Zimmer zu zeigen.
Mathilde erkannte sofort ihren Wunsch und sie stand auf, um ihre Gäste hochzuführen. Wilhelm Behren hingegen atmete tief durch, denn er würde diesen Weg nicht mitgehen. Nach dem Johanna damals das Haus verlassen hatte, betrat er niemals mehr diesen Raum. Veronika überlegte kurz und sprach nun eine weitere Bitte aus: „Bitte Frau Behren und Stephan, ich möchte sehr gerne Momente allein in diesem Raum verbringen. Ich würde dich später rufen Stephan, wenn es dir recht ist.
Es gibt etwas, was mich hier in diesem Haus stark bewegt. Frau Behren, wenn sie mir vertrauen, mir den Weg erklären bis zu diesem Zimmer, wäre es mir wirklich ein Bedürfnis, dieses zunächst in Ruhe auf mich wirken zu lassen. Sie sollten eines von mir wissen, nämlich dass ich erst kürzlich eine eigene Geschichte erlebt habe, die ich im Grunde noch nicht ganz verstehe, weil es teilweise unerklärlich war.
Es hatte auch mit einem Feingespür zu tun und mit dem Leben von Menschen aus einer anderen Zeit. Ich trug ein Gefühl in mir, was mich erkennen ließ, das damals etwas im Argen lag.
Zum Ende dieser sehr anstrengenden Geschehnisse, bekam ich eine Information von einer sehr alten Dame, die mich darauf aufmerksam machte, dass ich an Berlin Potsdamer Platz 1932 denken solle, er würde dort auf dich warten, ein gewisser Stephan, ich hätte etwas zu regeln oder zu helfen und herauszufinden.
Somit geschah es also, dass diese Verbindung zu Stephan hier nach vierunddreißig Jahren wieder durch einen Zufall oder ich nenne es einfach Fügung, zustande kam. In der Tat, nun sitze ich hier und rutsche mitten in diese Geschichte hinein, von der ich mir noch nicht einmal erklären kann, warum ich mit involviert bin.
All das Ganze bewegt mich jetzt, denn ich vermute stark, dass es einen Grund hat, dass selbst ich hier nun mit eingebunden bin. Somit muss ich also nicht nur Stephan und ihnen Hilfe leisten, sondern sogar mir selbst. Die Tatsache, dass Sie mich heute entsetzt angeschaut hatten, als würden Sie mich kennen, gibt mir zusätzlich zu denken.“
Die Angesprochenen schauten Veronika an, als würden sie diese vielen Informationen hier auf die Schnelle gar nicht verstehen können. Ihnen war klar, man musste Veronika diesen wichtigen Vorsprung lassen, das Gespür, welches sie in sich trug, um alles auf sich wirken zu lassen. Zumindest war es die erste Chance, auch wenn Stephan am liebsten direkt in das ehemalige Zimmer seiner Großmutter gestürzt wäre.
Ihm wurde bewusst, dass sich durch das Zusammentreffen mit Veronika nun einiges in seinem Leben verändern würde.
Er, der jahrzehntelang auf der Suche nach Hinweisen seiner Vorfahrin gewesen war, erhielt innerhalb von zwei Stunden ihrer Anwesenheit hier in Berlin so viele Informationen, wie nie zuvor. Der Moment ihrer Ankunft am Potsdamer Platz heute Nachmittag brachte ihm im Grunde genommen gleichzeitig das wirkliche Eintreffen seiner Großmutter nahe, denn eine ähnliche Szene spielte sich heute dort ab, als Wilhelm Behren diese damalige Ankunft von Johanna in seiner Hoffnung nacherlebte und mit dem Empfangsschild über den Potsdamer Platz ging.
Er glaubte fest daran, dass Johanna endlich wieder zurückkäme. Auch wenn ihm selbst klar war, dass sie gar nicht mehr leben würde, dieser Mann lebte in seiner Welt von damals und gab nicht auf, vermutlich nicht bis zu seinem Lebensende.
Читать дальше