Nach der Wende hatte sie Berlin noch nie besucht. Damals gab es ein geteiltes Deutschland und es war ihr ziemlich mulmig gewesen, all das zu sehen, was ein Land trennte, Menschen trennte, diese bedrückende Stimmung hautnah mitzuerleben.
Sie hatte sich sogar geweigert an einem Tagesausflug nach Berlin-Ost teilzunehmen. Irgendetwas fühlte sich nicht gut für sie an, sie muss damals schon sehr feinfühlig gewesen sein. Nun aber war es ihre Pflicht sozusagen.
Sie musste Stephan wiedersehen, alles hören und erfahren was aus ihm geworden war und sie wollte helfen, auch wenn sie momentan noch nicht wusste womit sie behilflich sein konnte.
Doch diese Geschichte mit Johanna ließ sie nicht mehr los. Da musste es Wege geben herauszufinden, was aus ihr geworden war, damals 1943 und vor allem, was ihr geschehen war nach dem 7. November 1932.
Somit beschloss sie Stephan zu informieren, dass sie ihn besuchen würde. Er solle sich schon einmal auf einige Tage einrichten, die sie ihn in Beschlag nehmen würde.
So viel wie möglich musste sie über Berlin erfahren, vielleicht gab es doch Anhaltspunkte, irgendeinen Hinweis, der ihr eine Richtung wies, wo sie ansetzen konnte.
Berlin Potsdamer Platz - Samstag, 7. November 2009
Veronika hatte alle Reisevorbereitungen getroffen. Nach über vierunddreißig Jahren sollte sie diese Stadt wieder besuchen. Sie war nicht nur deswegen aufgeregt, sondern auch wegen der ganzen Umstände, warum dieser Besuch nötig war.
Nicht zuletzt kam auch die Vorfreude auf, den kleinen Stephan endlich wiederzusehen.
Ihre Reise hatte sie im Vorfeld gut durchorganisiert. Sie würde in Berlin Hauptbahnhof einlaufen, denn im Gegensatz zu den Gegebenheiten von 1932 hatte sich dort einiges beträchtlich verändert, unter anderem auch der zentrale Ort des Bahnhofes, der nicht mehr am Potsdamer Platz lag, sondern nördlich der Spree hinter dem Reichstag.
Nach einigen Stunden, die sie im Zug verbracht hatte, war sie wie gerädert am Hauptbahnhof ausgestiegen. Es war kurz vor 15.00 Uhr. Dort schleppte sie sich mitsamt ihres Gepäck durch die Bahnhofshalle, fuhr mit der Rolltreppe zwei Etagen tiefer, um zur Kanzlerbahn zu gelangen. Diese war gerade erst vor drei Monaten in Betrieb genommen worden.
Die Stationen, die sie anfuhr waren nur drei. Sie begannen am Hauptbahnhof, nach wenigen Minuten erreichte man die U-Bahnstation am Kanzleramt und die dritte und letzte Aus- oder Einstiegsstelle war am Brandenburger Tor. Genau dort musste sie hin oder besser gesagt wollte sie hin.
Sie hätte auch umsteigen können in eine Bahn, die sie direkt zum Potsdamer Platz befördert hätte.
Aber nein, sie zog es vor, das letzte Stück des Weges durch das Viertel, in dem Johanna am 7. November 1932 ankommen war, zu Fuß zu gehen. Sie wollte die neue Freiheit der Menschen nach der Wende, die Gebäude und die Straßenzüge bei ihrem Fußmarsch auf sich wirken lassen.
Somit fuhr sie zum Brandenburger Tor und stieg die Stufen hinauf, die von der U-Bahnstation in die Stadtmitte führten. Vor ihr lag der Pariser Platz. Für sie war es ein eigenartiges Gefühl, alles von der anderen Seite zu sehen, nun im damaligen Ostteil von Berlin zu sein, vor dem sie sich 1975 geweigert hatte ihn zu besuchen, weil es sie alles beängstigt hatte.
Neugierig ging ihr Blick zu allen Seiten. Schnell hatte sie das Brandenburger Tor erreicht. Ihr Koffer hatte Räder und so konnte sie bequem ihr Gepäck hinter sich herziehen.
Es war schon imposant, das musste sie zugeben und ihre Gedanken gingen zurück in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Hier war Johannas Leben, genau hier in den Jahren zwischen 1932 und 1943.
Ob es da noch Anhaltspunkte zu finden gab, irgendwelche Informationen?
Den ersten Schritt, den sie gerne unternehmen würde, hatte sie auf der Fahrt hierher überlegt und am Abend würde sie ihn Stephan mitteilen. Vielleicht fand er das gar nicht so schlecht, beziehungsweise hoffte sie, dass er es genauso sehen würde.
Sie wusste noch nicht einmal, ob er damit einverstanden war, dass sie nun mit in Materie einsteigen wollte, doch sie war schon mittendrin irgendwie, sie kannte sich.
Gegen ihren Willen war sie ja, wie bereits erwähnt, schon einmal in eine Geschichte gezogen worden, wo sie vor Ungeklärtem stand. So fühlte sie jetzt wieder ganz stark, dass auch hier etwas im Argen lag und sie diesem Bann der Klärung unterlag. Nach wenigen Minuten hatte sie das Brandenburger Tor passiert und schaute sich weiter um.
Zu ihrer Rechten entdeckte sie das Gebäude des gigantischen Reichstages und sie schüttelte mit dem Kopf, immer noch ungläubig darüber, dass sie dieses nun alles wiedersah.
Doch sie konzentrierte sich schnell wieder auf das Wesentliche und bog links in die Ebertstraße ab, querte eine Straße die da hieß, Behrenstrasse.
Nachdenklich setzte sie einen Schritt vor den anderen, obwohl sie gerne dort verweilt hätte, um alles auf sich wirken zu lassen. Aber sie war gleich verabredet und sie hatte nur noch eine gute Viertelstunde Zeit bis dahin.
Die Ampeluhr auf dem Potsdamer Platz, das historische Wahrzeichen, dort würde sie auf ihren Stephan treffen.
Langsam aber sicher wurde sie nervös.
Ob er so aussah, wie auf dem Foto im Netz?
Ob er so nett ist, wie er schrieb, dachte sie immer wieder.
Mittlerweile passierte sie bereits das Stelenfeld, ein Mahnmal für den Holocaust in Europa. Sie stockte bei dessen Anblick und es wurde ihr irgendwie anders.
Doch sie zwang sich, jetzt nicht gedanklich abzudriften und eilte weiter, so dass sie nach wenigen Gehminuten den Potsdamer Platz erreichte.
Nichts erkannte sie von dem wieder, was man ihnen zum Teil damals auf dem Schulausflug gezeigt hatte. Der berühmte Platz, ursprünglich das Herz der Stadt Berlin, war durch den Mauerbau 1961 geteilt worden. 1975 befanden sich hier Aussichtsplattformen, um in den Osten zu schauen.
Von den herrschaftlichen Häuser und Cafés, die noch vor Kriegsbeginn dort gestanden hatten, war nichts mehr übrig geblieben. Entweder waren sie durch die Bombardierung zerstört worden oder wurden später auf Grund des Mauerbaus abgetragen.
Als sie das Ritz erreicht hatte und rechts in die Straße schaute, fiel ihr Blick auf die hohe Glasfassade des Sony Centers und nun musste sie sich laut Stephans Beschreibung weiter geradeaus halten. Sie querte diese Seitenstraße und entdeckte von weitem die berühmte Ampeluhr, eine Erinnerung an die erste Verkehrsampel Europas.
Im Jahre 1924 hatte man sich zur Aufstellung einer achtmeterfünfzig hohen fünfeckigen handgeschalteten Ampelanlage entschlossen, doch wurde sie bereits 1936 wieder demontiert.
Sie schaute interessiert auf die Nachbildung, die man 1997 errichtet hatte und dort würde Stephan stehen und auf sie warten.
Viele Menschen bestaunten neugierig dieses berühmte Gebilde und so auch Veronika, die langsam näher kam, aber niemanden entdeckte, der auch nur ungefähr Stephan ähneln könnte.
„Kannst du mir bitte helfen? Mein Kanu ist gekentert und ich bekomme es nicht aus dem Wasser gezogen, weil es vollgelaufen und zu schwer für mich ist!“
Veronika schnellte herum und schaute in zwei wunderschöne blaue Augen. Ein Mann mittleren Alters, etwa einen Kopf größer als sie, stand vor ihr und grinste sie schelmisch an.
„Wenn du mir geholfen hast, können wir uns dort hinten am Eiswagen ein Eis kaufen, wenn du magst!“ Er lachte und nahm Veronika in die Arme, schleuderte sie einmal um seine eigene Achse und setzte die überrumpelte Frau wieder ab.
„Mensch Stephan, du bist aber gewachsen!“, grinste sie zurück und wuselte ihm durch die Haare.
„Es gab einmal Zeiten, da war ich größer als du und wenn ich dich ansehe, habe ich das Gefühl, immer noch dein spitzbübisches Grinsen von damals zu erkennen, als du alles in trockene Tücher hattest und erleichtert über die Rettung deines Bootes warst. Und überhaupt, wo ist hier das nächste Eiscafé?“
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