Oben begrüßte sie strahlender Sonnenschein. Immerhin etwas Gutes. Sie befand sich an einer Straßenkreuzung, die nicht ausgeschildert war, und keine Ampeln hatte, und sah dennoch einen reibungslos ablaufenden Straßenverkehr. Das wäre aber nicht so schlimm gewesen, hätte es Schilder mit Straßennamen gegeben. Elaine war immer noch so schlau wie vorher. Sie stand auf der Straße und die Passanten, die irgendwie alle gleich in ihrer Geschäftskleidung aussahen, gingen einfach um sie herum, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Aber sie wurde auch nicht angerempelt. Überhaupt, es gab keinerlei Zusammenstöße. Als ob die Leute ihre eigenen unsichtbaren Schienen verfolgen würden. Sie versuchte, einige Menschen anzusprechen, aber sie gingen einfach so an ihr vorbei, ohne mit der Wimper zu zucken. Als wäre sie Luft. Ganz schön unhöflich.
Dann ging ein Halbwüchsiger auf sie zu, mit längeren, zerzausten, strohblonden Haaren, wie ein Punk gekleidet und barfuß. „Hi, ich bin Boo. Eigentlich heiß‘ ich Peter, aber sie nennen mich hier alle Boo. Du bist neu hier, hm?“
Sie nickte und stammelte: „Ich b-bin Elaine.“
Er grinste, warf die Haare, die ihm ins Gesicht hingen, mit einer lässigen Kopfbewegung nach hinten, und sprach affektiert mit ausgebreiteten Armen: „Herzlich willkommen im Wunderland!“
Elaine sah ihn an und dachte sich, der Junge nimmt Drogen oder so etwas.
Er verzog den Mund und meinte daraufhin: „Ich weiß, was du denkst. Kleiner Spinner, faselt ’nen Mist und so. Okay, die Einheimischen nennen es nicht Wunderland. Auch nicht das Land von Oz,“ er grinste erneut. „Aber“, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, „‘s könnte beides auf einmal sein. Ich bin schon ‘n paar Jahre hier, seit ich mit vierzehn Jahren von Zuhause weggelaufen bin. Mann, ich war ganz schön dämlich. Aber, das Glück ist ja bekanntlich mit den Dummen, also bin ich hier gelandet, mit so ’nem blöden Zug. Mann, das war die beste Achterbahnfahrt meines Lebens gewesen, zumindest bis dahin. Ich müsst‘ jetzt eigentlich so um die achtzehn, neunzehn sein. Ist auch egal. Ich glaube, die Leute hier werden nicht älter, als sie‘s sein sollen, also glaub‘ ich, ich bin der ewige Teeny. Schicksal.“
Dann kratzte er sich am Kopf. „Weißt du was, ich nehm‘ dich mal zu meinen Freunden mit. Da kannst du auch wohnen, bis du dich hier eingelebt hast und was Eigenes hast.“
Elaine blieb stehen: „Ich kann hier nicht bleiben, ich muss nach Hause. Meine Eltern werden mich sicher vermissen, wenn ich sie nicht hin und wieder besuche und meine beste Freundin sucht mich sicher schon, wir wollten heute Abend noch...“
Boo unterbrach sie: „Das kannst du vergessen. Einwanderer haben eine Wegfahrsperre für was weiß ich wie lange. Du musst schon bei dem Prinzen einen Stein im Brett haben oder ihm einen Riesengefallen tun, um wieder zurück zu dürfen. Aber hey, wieso auch? Wirst schon sehen, sobald das Heimweh weg ist, wirst du hier nicht weggehen wollen. Es ist extrem cool hier.“ Man merkte, dass der Junge schon länger weg war. Sonst hätte er vermutlich „krass“ gesagt.
„Ich will hier aber nicht bleiben! Ich habe doch schon alles, was ich brauche. Ich studiere, habe einen Job, was schon mal was heißt, ich habe meine Familie, meine Freunde und... und... und ich brauche das alles hier nicht!“
Boo sah genervt zum Himmel: „Vertrau mir, Schwester. Ich hab‘s auch durchgemacht und...“
Sie unterbrach ihn: „Hey, du bist von Zuhause weggelaufen. Kein Wunder, dass es dir hier so gut gefällt. Ich mag aber mein Zuhause.“
Er rollte die Augen: „Okay. Ich werd‘ hier warten und schauen, wie du‘s anstellen willst, wieder zurück zu gehen. Könnte lustig werden, du weißt ja, Schadenfreude und so.“
Elaine stemmte die Fäuste in die Hüften und sagte bestimmt: „Du sagst mir jetzt, wie ich zu diesem Prinzen komme. Das kann doch nicht so schwer sein!“
Boo brach in schallendes Gelächter aus. Keiner der Passanten nahm auch nur die geringste Notiz davon. „Oh... oh Mann, du bist gut, ... eine Audienz beim Prinzen, weißt du überhaupt, wie schwer die zu kriegen ist? Seinen Kanzler oder seine Schreiber zu sprechen, das ist ja noch machbar. Aber der Prinz... der ist ziemlich menschenscheu. Du hast schon Glück, wenn du ihn ein Mal am Jahresende siehst. Und dann musst du ihn noch unter seinem Kostüm überhaupt erkennen – wir haben hier Maskenbälle am Ende des Jahres. Vergiss es und komm einfach mal mit. Ob du‘s mir glaubst oder nicht, es ist hier kinderleicht, neue Freunde zu finden.“
Elaine seufzte und spielte ihren letzten Trumpf aus: „Ich kann wieder zurückgehen und auf den Zug warten, Boo.“
Eine neue Lachsalve folgte: „Das habe ich auch schon versucht. Der Zug ist für die Eingeborenen, die mal unsere Welt besuchen wollen. Und er kommt nicht einfach so, wenn ein Einwanderer zurück will. Hat seinen eigenen Kopf. Den gibt‘s nur einmal auf der Welt, hier in der Hauptstadt.“
„Wie heißt sie denn?“
Er schüttelte den Kopf, als ob sie ein dummes Kind wäre, das nicht verstehen will: „Na, Hauptstadt natürlich! Wie soll sie denn sonst heißen? Normale Städte haben Namen, damit man sie unterscheiden kann. Die Hauptstadt braucht keinen Namen. Es gibt sie ja auch nur einmal. Genau wie den Prinzen. Ist doch einfach. Ach ja, du brauchst jetzt auch einen neuen Namen, deinen alten wirst du hier nicht benutzen können. Hey, wie wär‘s mit Dickkopf?“, er kicherte.
„Wie hast du denn bei deinem Charme Freunde gefunden?“, sie zog eine Augenbraue hoch.
Er winkte ab: „Ach was, hier geht ´s nur in bestimmten Kreisen um Umgangsformen – da aber richtig. Wir gemeinen Leute können dagegen tun und reden, wie‘s uns beliebt. Die Freiheit des einfachen Volkes, sozusagen. Aber welchen Namen willst du jetzt?“
Sie dachte nach. Ihre Großmutter nannte sie immer... „Ellie, ich will Ellie heißen.“
Er verzog den Mund: „Das ist zwar gewöhnlich und langweilig, aber okay. Es ist ja deine Entscheidung. Und jetzt komm!“
Langsam schlenderte er die Straße hinunter, aber Elaine hatte Mühe, ihm hinterher zu kommen. „Warte mal!“, rief sie, als sie ihn beinahe in der Menge verloren hatte.
Er blieb stehen: „Ach ja, du hast es ja noch nicht raus: Du brauchst deine persönliche Gehweise, damit du am besten dorthin ankommst, wo du hin willst. Ich schlendere, manche tänzeln vorwärts. Wie gehst du am liebsten? ‘s spielt keine Rolle, wie schnell oder langsam du früher damit vorangekommen bist. Nur nicht den Takt verlieren!“
Elaine versank in Kindheitserinnerungen. Dann begann sie zögerlich zu laufen. Es war nicht das Laufen von vorhin, um jemandem hinterher zu kommen oder um nicht zu spät zu sein. Es war das Laufen um seiner Selbst willen. Sie fühlte sich leicht wie ein Blütenblatt.
Boo pfiff ihr hinterher: „Cool! Du bist ein Läufer! Das ist stark!“
Nicht viel später kamen sie an einem heruntergekommenen Wohnungsblock an. „Hier wohnen wir. Was hast du bisher gemacht? Arbeit, mein‘ ich.“
„Ich studiere und jobbe nebenbei als Verkäuferin in einer Boutique.“
„Studieren bringt dir hier herzlich wenig. Aber verkaufen kannst du hier auch, wenn du dich erst mal daran gewöhnst, wie‘s hier gehandhabt wird. Na, du bist noch jung, das wirst du noch lernen. Komm jetzt.“ Boo zwinkerte ihr zu.
Der Aufzug war außer Betrieb. Boo meinte, das war genauso wie bei der Rolltreppe. „Wenn du in den fünften Stock willst, liefert er dich vielleicht im zwölften ab. Wenn du Pech hast, dann im Keller. Und dann musst du noch mehr laufen, als wenn du gleich losgegangen bist. Drum kosten die Wohnungen in den oberen Stockwerken fast nichts im Vergleich zu denen im Erdgeschoss. Schicksal.“
Wie Elaine beim Treppensteigen herausfand, lebten Boo und seine Freunde im siebten Stock. Oben angekommen war Elaine völlig außer Atem, während Boo anscheinend gar keine Probleme mit dem Aufstieg hatte.
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