„Einige Jahre. Meist ist es nach einer Woche vorüber. Die Bader sagen, der Körper scheidet sie aus, wenn sie nicht zu groß sind.“
„Warum sucht Ihr keinen Arzt auf?“
„Einen Juden vielleicht?“
„Es gibt auch arabische Ärzte.“
„Der Kaiser hatte einen hervorragenden Arzt. Sie nannten ihn den Mauren.“ Markward sank zurück in die Kissen der sizilianischen Königin. „Leider verlor ich ihn aus den Augen. Er und sein Weib waren hervorragende Ärzte. Ohne sie wäre Heinrich schon früher umgekommen. Noch früher. Gütiger Gott, er war gerade vierunddreißig Jahre alt.“ Markward verstummte und starrte wehmütig an die Decke.
Florent zog sich einen Hocker ans Bett. Sollte er sagen, dass er den Mauren gekannt hatte oder besser schweigen?
Der Kranke zuckte zusammen und krümmte sich. „Gütiger Himmel“, stöhnte er. „Betet für mich, so schlimm war es nie zuvor.“
Florent faltete die Hände und murmelte ein Vaterunser, doch in seinem Hinterkopf reifte ein Gedanke heran, der sich nicht mehr abweisen ließ. Er wälzte ihn hin und her und nach dem dritten „ ...in Ewigkeit, Amen.“ Beschloss er, es zu riskieren. „Wenn Ihr dieses Ärztepaar kanntet, wisst ihr bestimmt auch von der Tochter?“
„Sie war nicht ihre Tochter, die beiden hatten nicht einmal geheiratet. Judith war nichts weiter als eine entlaufene Äbtissin, die in Sünde lebte. Hätte Heinrich sie nicht so sehr gebraucht, wäre sie im Verlies gelandet.“ Er stockte plötzlich. „Warum fragt Ihr nach dem Mädchen?“ Seine tränenden Augen richteten sich misstrauisch auf Florent.
„Sie kennt sich auch mit der Heilkunst aus.“
Von Annweiler stützte sich mühsam auf die Unterarme. „Ich vergesse immer wieder, dass Ihr Wilhelms Schwertmeister wart.“ Er kniff die Augen zusammen. „Natürlich kanntet Ihr das Mädchen. Weißes Haar und diese seltsamen Augen, sie hatte Heinrich völlig verhext. Keinen Schritt tat er ohne sie. Sie rettete ihm das Leben, damals vor Neapel, als die Männer starben wie Frösche in der Wüste.“
„Vielleicht könnte sie Euch helfen.“
Der Kranke winkte ab. „Sie sind nach Akkon geflohen, alle drei.“
Florent grübelte fieberhaft. Sollte er Luna verraten? Markward würde ihr vergeben, wenn sie ihn heilte. Wenn er sie nur fragen könnte.
Markward musterte ihn. „Was wisst Ihr über Luna?“
Florent holte tief Luft. „Sie ist hier auf der Insel.“
„Was? Und das sagt Ihr erst jetzt?“
Florent konnte von Glück sagen, dass Markward so schwach war, sonst hätte er ihn mit Sicherheit am Kragen gepackt. Wut und Hoffnung vermischten sich in seinem Blick.
„Sie ist unterwegs nach Norden.“
„Ihr müsst sie holen! Wenn sie noch auf der Insel ist, könnt Ihr vor Ablauf der Woche zurück sein.“
„Ihr tragt ihr nichts nach, was den Tod des Kaisers angeht?“
Der Kranke schien ihn nicht zu hören. „Worauf wartet Ihr? Ich will nicht unter diesen goldbestickten Samtvorhängen sterben. Reitet wie der Teufel und bringt mir diese weiße Hexe.“
Wer gab dir, Minne, die Gewalt,
daß du so ganz allmächtig bist?
Du siegtest über jung und alt,
Und gegen dich hilft keine List.
Walther von der Vogelweide
Ahmeds Frau Liliane warf die Haustür zu. „Es ist schon wieder passiert!“
„Was?“, fragte ihr Mann.
„Sie haben die Hauswand mit Schafmist beworfen.“
„Die Dummheit der Menschen kennt keine Grenzen.“ In seiner Miene spiegelte sich Ratlosigkeit.
Luna erhob sich vom Tisch, an dem sie bis eben gemeinsam gegessen hatten. „Ich habe eure Gastfreundschaft lange genug strapaziert. Sie werden Ruhe geben, wenn ich weg bin.“
„Nein!“, rief Julio. „Dann haben sie gewonnen.“
Er war der Einzige, der protestierte, alle anderen blickten betreten zu Boden. Die vergangenen Sommermonate waren schwierig gewesen. Nachdem der schielende Junge mit einer Beule am Kopf nach Hause gekommen war, kamen Gerüchte in Umlauf. Es hieß, sie habe ihn nach seinem Sturz zum Leben erweckt. Urheber waren mit Sicherheit seine Kumpane, die voreilig davongelaufen waren und in der Stadt erzählten, der Schielende sei tot, erschlagen vom Sohn des Gewürzhändlers. Doch dann tauchte der Totgesagte auf dem Marktplatz auf. Umringt von interessiertem Publikum, glaubte er bald selbst, dass Luna ihn ins Leben zurückgeholt habe.
Zunächst belebten die Geschichten das Geschäft des Gewürzhändlers, viele Leute kamen, um Luna zu sehen und vor der Tür zu tuscheln. „Habt ihr das Haar gesehen?“
„Weiß wie die Seide aus Messina.“
„Und ihre Augen, sie haben überhaupt keine richtige Farbe.“
Einige fragten sie um medizinischen Rat und Ahmed erweiterte sein Angebot um etliche Heilkräuter, wie Anis und Lavendel, die am La Rocca wuchsen. Anfangs sammelte Luna die Pflanzen selbst, doch mit der Zeit verfolgten sie immer mehr Kinder, wenn sie sich vor der Tür blicken ließ. Bald übernahm sie das Kochen und blieb im Haus, während Julio mit seiner Großmutter Kräuter sammelte.
Eines Tages brachten sie ein kleines Mädchen mit hohem Fieber zu ihr. Luna vermutete ein Lungenfieber und verordnete Arumwurzel und Anis. Das Kind erholte sich bald und die Gerüchteküche brodelte umso schlimmer. War die Frau mit dem Falken eine Hexe oder ein Engel oder was sonst?
Luna konnte nicht mehr zum Markt gehen, ohne dass die Leute hinter ihrem Rücken tuschelten, sie berühren wollten oder sich bekreuzigten und vor ihr ausspuckten. Dann blieben im Gewürzladen die ersten Stammkunden aus, Wochen später gab es Tage, an denen niemand in den Laden kam.
Luna holte tief Luft. „Ich wollte über Winter bleiben. Jetzt ist fast ein ganzes Jahr daraus geworden.“
Sie benötigte nicht viel Zeit, ihre wenigen Dinge zusammenzupacken. Am nächsten Morgen stand die Familie des Gewürzhändlers bereit, um Lebewohl zu sagen. Luna umarmte sie der Reihe nach. „Habt Dank für alles.“
„Ich begleite dich zum Stadtrand“, sagte Ahmed, dessen Empfindungen zwischen Bedauern und Erleichterung schwankten. Die Dunkelheit kroch aus den leeren Straßen und zog sich nach Westen übers Meer zurück. Sie verabschiedeten sich am Fuße des La Rocca. Bella hob den Schnabel in den Wind, eine willkommene Abwechslung nach den Wintertagen im stickigen Haus.
Der Gewürzhändler sah der jungen Frau nach, bis sie hinter dem Felsen verschwunden war. „Allah sei mit dir“, murmelte er.
Am späten Nachmittag des gleichen Tages galoppierte ein junger Mann im Lederharnisch vor das Westtor der Stadt. „Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?“, fragte der Wächter, der ihm entgegentrat.
„Ich bin der Schwertmeister des Königs und suche den Gewürzhändler Ahmed.“
Der Wächter streckte den Rücken durch und legte die Stirn in Falten. Dieser Händler erregte in letzter Zeit viel Aufsehen. Nun kam sogar ein Diener des Königs – waren die Gerüchte bis nach Palermo gelangt? Doch das ging ihn nichts an. Der Mann schien ehrbar, es gab keinen Grund, ihm den Zutritt zur Stadt zu verwehren. Er trat zurück und wies über die Straße. „Gleich gegenüber befinden sich die Ställe, wo Ihr Euren Hengst unterstellen könnt.“ Sein Blick ging bewundernd über die kräftigen Muskeln und das glatte Fell des Braunen, dem man die Strapazen des langen Rittes nicht ansah.
„Ich habe nicht vor, mich von dem Tier zu trennen“, sagte der Reiter eine Spur zu hochnäsig.
Der Wächter sah auf. Sollte er sich in dem Mann getäuscht haben? „Die Gassen der Stadt sind schmal, außerdem werdet Ihr nirgendwo sonst Futter bekommen.“
„Also gut.“ Der Mann saß ab. „Wie weit ist es zu Fuß bis zum Haus des Händlers?“
„Hundert Schritte die Hauptstraße hinunter und dann rechter Hand in die Gewürzgasse hinein. Geht einfach dem Geruch nach, ihr könnt sie nicht verfehlen.“
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