„Es sind nur Hühner.“ Federicos Miene zeigte keine Reue, eher Verwunderung.
„Auch sie haben unseren Respekt verdient. Sie liefern uns Eier, Federn und Fleisch.“
„Für Letzteres müssen wir sie schlachten“, konterte der Junge.
„Nachdem sie gelebt haben! Verstehst du nicht? Du nimmst ihnen die Möglichkeit, überhaupt zu leben. Das ist verabscheuungswürdig.“ Florent warf einen längeren Blick in den Brunnen. „Was sind das für Bänder um die Glucken?“
„Ich habe sie festgebunden.“
Sein Meister musterte ihn eine Weile sprachlos, dann sagte er: „Du glaubst, die Natur gibt Antworten auf deine Fragen, wenn du sie quälst? Das funktioniert nicht. Lass die Hühner frei und bring sie zurück, wo sie hingehören.“
Federico schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, die Eier sind schon angebrütet.“
„Gütiger Jesus!“ Florent lief rot an. „Ich will nicht mit dir debattieren, ich will, dass du tust, was ich sage! Sofort befreist du die Hühner!“ Er schrie es und die Glucken gackerten panisch.
Federico zögerte. Er hatte seinen Lehrmeister noch nie wütend gesehen, das allein sprach dafür, zu tun, was er verlangte. Allerdings verstand er diese Wut nicht, er musste herausfinden, was sie verursachte. „Opfer zu bringen ist notwendig für die Wissenschaft und ein Huhn ist ein armseliges Tier.“
„Ein Huhn ist ein Lebewesen wie alle anderen auch! Wenn du nicht augenblicklich deinen Hintern in Bewegung setzt, kannst du dir einen neuen Meister suchen. Frag den Magister, ob er dir zeigt, wie man das Schwert benutzt. Frag Markward, ob er dir die Armbrust spannt.“
Mit einem Schulterzucken erhob sich der Junge und kletterte in den Brunnen. Florent sah zu, wie er eine der Glucken mit ihrem Nest anhob und einen breiten Leinenstreifen löste, der um das Tier und den Korb gewickelt war.
„Wenn du dich beeilst, können sie im Hühnerstall weiter brüten“, sagte Florent. „Aber ohne Gurt!“
„Die Eier werden absterben“, grummelte der Junge.
„Nein, das halten sie aus. Die Glucken müssen schließlich fressen und kacken gehen können.“
Federico bedachte ihn mit einem zornigen Blick.
Er hat nichts verstanden, dachte Florent entsetzt. Was geht in diesem Kind vor?
„Wenn die Hühner wieder an Ort und Stelle sind, melde dich bei Magister Franciscus. Entschuldige dich bei ihm und nimm die Lateinlektion wahr.“ Fluchtartig verließ Florent den Garten. Den Kopf voller bestürzender Gedanken eilte er über den Hof. Auf welche dummen Einfälle würde Federico noch kommen? Er musste dafür sorgen, dass der Junge eine Aufgabe bekam, die ihn forderte, der Unterricht allein genügte nicht. Wenn er wenigstens in die Stadt dürfte, seine Freunde sehen.
Er selbst hatte in den letzten Tagen verstärkt darüber nachgedacht, Luna zu suchen. Sorgen und Vorwürfe quälten ihn, weil sie allein unterwegs war. Doch dann müsste er Federico für Tage, vielleicht Wochen allein lassen. Verflucht, warum fiel ihm kein Ausweg ein?
Am Eingang der Palastwäscherei blieb er stehen. Aus der Tür quollen Dampfschwaden, es roch nach Seife und feuchter Wolle. Er hörte Mägde schwatzen, während Wasser plätscherte und nasser Stoff auf Stein klatschte. „Das geht schon länger. Es müssen qualvolle Schmerzen sein.“
„Von mir aus kann er verrecken, ich war seit drei Wochen nicht bei meiner Mutter.“
„Eine Frechheit, uns hier einzusperren. Reich mir mal den Korb rüber.“
Sie sprachen über den Markgrafen. Wenn der tatsächlich krank war, ergab sich vielleicht eine Möglichkeit, aus dem Palazzo herauszukommen. Er könnte Lorna aufsuchen, vielleicht hatte sie etwas von Luna gehört ... Wie ein Wink des Schicksals kam einer der Schreiber des Markgrafen über den Hof.
Seine Miene war hochnäsig wie immer, doch Florent vertrat ihm den Weg. „Baron Maserini, ich bitte um Verzeihung. Es heißt, der Markgraf sei erkrankt. Es gibt eine heilkundige Frau in der Stadt, ich würde sie holen, wenn Ihr mir eine Genehmigung erteilt.“
Der Schreiber war stehen geblieben und musterte ihn. „Ihr seid der Schwertmeister des jungen Königs, wenn ich mich recht erinnere. Wie kommt Ihr darauf, der Markgraf sei krank?“
„Es gibt Gerüchte und heute früh ... mir schien, er hatte starke Schmerzen.“
„Unsinn, es geht ihm ausgezeichnet.“ Maserini reckte seine Nase ein wenig höher und eilte die Treppe hinauf.
Missmutig schlenderte Florent in Richtung Küche. Vor der Siesta musste er etwas essen. Seit der Palazzo abgeriegelt war, stellte sich unter den Bediensteten solidarische Brüderlichkeit ein, die eine bisher unbekannte Großzügigkeit des Küchenpersonals einschloss. Eine Magd füllte ihm einen frisch gebackenen Fladen mit gekochtem Gemüse. „Vorsicht, sehr heiß“, sagte sie und lächelte ihm zu.
„Wer?“, scherzte er.
Sie kicherte. „Verschwinde. Der Koch sieht es nicht gerne, wenn wir unsere Zeit vertun.“
„Was ist dran an den Gerüchten, der Markgraf sei krank?“
Das Lächeln verschwand. „Wir kochen jede Menge Tee. Vielleicht ein Nierenleiden.“
„Na so was“, sagte Florent und biss in den heißen Fladen. Er schmeckte Kichererbsen und Gurken. „Mmh, himmlisch. Ein bisschen salzig vielleicht. Ist der Koch verliebt?“
Die Magd wurde rot. „Luigi? Höchstens in sich selbst.“
Er war schon auf dem Hof, als ihn jemanden rief. „He, Schwertmeister!“ An der Balustrade stand der hochnäsige Schreiber. „Der Markgraf will Euch sehen.“
Markward hatte sich in den ehemaligen Räumen der Königin einquartiert. Kostbare Teppiche bedeckten Boden und Wände, an den Motiven erkannte er das Werk persischer Teppichknüpfer. Marmorstatuen blickten ernst auf leere Bodenvasen. Der Schreiber führte ihn in ein helles Zimmer, in dem die Fenster bis zum Boden reichten. Dort schob er ihn auf ein breites Bett mit roten Samtvorhängen zu und verkündete: „Der Schwertmeister, Hoheit!“
Als Antwort kam ein markerschütterndes Stöhnen und eine Hand winkte ihn aus einem Berg von Decken heran. Es war wenige Stunden her, seit er Markward in dessen Schreibstube gegenüber gesessen hatte. In dieser Zeit hatte der sich rapide verändert, seine Gesichtshaut war gelblich und um seine Augen lagen dunkelblaue Schatten.
„Der Schreiber sagte mir, meine Krankheit hätte sich herumgesprochen“, krächzte der Kranke. „Wen kennt Ihr, der mir helfen könnte, Judenärzte ausgeschlossen?“
„Es gibt eine alte Kräuterfrau in der Stadt. Sie ist blind, aber sie mischt für einen großen Kundenkreis ihre Arzneien und viele Leute vertrauen ihr.“
„Blind, sagt Ihr? Wie kann sie da mischen?“
„Sie hat eine Gehilfin, äh... ich meine, einen Jungen, der ihr hilft. Er handelt nach ihren Anweisungen und ist dabei recht geschickt.“
„Maserini? Lasst Euch die Adresse geben und bringt die Alte her.“
Florent hob die Hand. „Mit Verlaub, wäre es nicht besser, Ihr würdet Eure Gebrechen schildern, damit sie die erforderlichen Arzneien gleich mitbringen kann?“
„Blödsinn ...aah.“ Ein erneuter Schmerzanfall nahm ihm den Atem. „Es ... sind Steine. Die Bader sind sich nicht einig, wo sie sitzen. Der eine sagt, in den Nieren, der andere sagt, in der Galle. Ich saufe wie ein Schlachtross nach einem Ritt durch die Wüste, gehe alle Stunde pissen, aber die Dinger sitzen fest.“ Er stöhnte und auf seiner Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen.
Florent wusste nicht so recht, was er sagen sollte.
„Gebt mir zu trinken!“, presste Markward hervor.
Zwei Krüge voll Tee standen auf einem Tisch neben dem Bett. Florent füllte einen Becher, half ihm beim Aufsetzen und beim Trinken. Wie schnell eine Krankheit einen Mann zu Fall bringen kann, dachte er. Wie eine Säge einen Baum. „Wie lange habt Ihr diese Steine schon?“
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