Jetzt verfiel er in Hektik. Sprang er auf. Sein Verstand verriet ihm, während die erste Welle dieses Kribbelns im Rachen nachließ, dass er nicht aufgepasst hatte. Und das eine zweite Welle folgen würde. Er hatte Angst. Er bewegte sich in seiner vertrauten Umgebung, hier passte er nie auf. Nicht mehr, als die Routine es von ihm verlangte. Er lebte ein Gefühl der Sicherheit, dass vielleicht jemand ausgenutzt hatte. Sein Stuhl schlug hinter ihm auf das Parkett aus den siebziger Jahren. Er starrte auf die Tasse vor ihm und auf die Teebeutel, die noch in der gläsernen Kanne hingen. Seine Augen aufgerissen, stürzte er aus dem Wohnzimmer. Er hatte keinen Blick für den englischen Rasen, der sich hinter den Panoramascheiben in sattem Grün bis zu den hochgewachsenen Buchen am Ende des Grundstücks erstreckte. Er lief vorbei an der verspiegelten Wand im Eingangsbereich, nahm zwei Stufen auf einmal. Fast oben, nahm er drei Stufen. Zuviel. Die Spitze seines polierten Schuhs blieb an der obersten Stufe hängen. Die zweite Welle traf ihn härter. Pfeifen und Röcheln verrieten, dass auch mit seiner Lunge etwas nicht stimmt. Er spürte, dass es eiliger war, als er angenommen hatte.
Er strauchelte, schlug auf den Boden. Sein Blick war starr auf die Badezimmertür gerichtet. Dort befand sich sein Notfall-Stick. Er spielte die Griffe mit dem Adrenalinstick vor seinem inneren Auge durch. In wenigen Sekunden sollte er den handlichen Stift mit der rettenden Flüssigkeit in seinen Oberschenkel rammen. Seine Knie schmerzten vom Sturz. Die Stimme seiner Ärztin im Ohr: »Stoßen Sie den Stick in Ihren Oberschenkel. Wenn Sie ihn in den Finger rammen, platzt er.« Dabei hatte sie nicht gelächelt, wie sie es sonst bei Scherzen tat. Er schloss daraus, dass es kein Scherz war, und hatte Nachfragen unterlassen.
Seine Lunge pfiff. Unmengen Luft musste er in beide Lungenflügel saugen, damit ein bisschen Sauerstoff seine Blutbahn erreichte. Er musste sich beeilen, das wusste er. Es war ein Wettlauf zwischen ihm und der Ohnmacht. Ein Rennen zwischen Leben und Tod. Blieb seine Lunge zu lange ohne Sauerstoff, stieg das Kohlendioxid in seiner Blutbahn. Bewusstlosigkeit wäre die Folge. Soviel wusste er. Dieses Rennen musste er gewinnen. Längst dachte er an nichts anderes mehr. Die Anstrengung, am Leben zu bleiben, verdrängte seine Wut. Die nächste Aufgabe war wichtiger, als die Frage, wer ihm das angetan hatte. Wer wollte ihn umbringen? Es musste ein Mordversuch sein. Jetzt interessierte es ihn nicht. Sein Wutschrei, hatte ihn zu viel Kraft gekostet. Schwankend stand er auf. Seine Hände suchten an der Wand nach Halt. Die teuren Drucke in den edlen Rahmen, von seiner Frau ausgesucht, von ihm bezahlt, schlugen auf den Boden. Ihr Glas zerbarst. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter lautem Pfeifen. Mit zitternden Händen wühlte er in den Schubladen neben dem Badezimmerspiegel. Da lag der Stick. Eigentlich lag er da. Jetzt war der Notfall-Stick weg. Schweiß trat auf seine Stirn. Was er im Spiegel sah, war nur noch verschwommen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er stürzte raus auf den Flur. Rutsche die Treppe auf seinen glatten Ledersohlen mehr runter, als dass er sie lief. Das Telefon lag in der Küche. Sein Blick war starr, seine Pupillen lieferten nur noch undeutliche Bilder. Er wusste, dass dieses Signal echte Gefahr bedeutete. Er hatte die 112 gewählt. Versuchte zu sprechen. Da senkte sich ein tiefes Schwarz vor seine Augen. Den Aufschlag auf die Küchenfliesen spürte er nicht mehr. Genauso wenig bekam er mit, dass er die grüne Taste an seinem Telefon nicht gedrückt hatte.
Seinen Schrei hatte niemand gehört. Ihn konnte niemand hören. Die Fenster und Türen der gepflegten Villa waren, entgegen der Gewohnheit, säuberlich verschlossen. Wer an diesem Tage in das Haus käme, steckte erst in einer Stunde seinen Schlüssel in das Schloss der Haustür.
Tropfen rannen am beschlagenen Weißweinglas langsam und ungleichmäßig zu Boden. Hardy liebte solche warmen Frühsommerabende und er liebte diesen Wein. Für solche Momente hatte er lange nicht die Zeit und das Wetter gehabt. Heute passte beides. Hier auf seinem Hausboot verströmten sie den Duft von Urlaub und Freiheit. Sein Blick schweifte über die Spree. Ihr Wasser glitzerte in der Abendsonne. Der Trubel der Hauptstadt schien kilometerweit entfernt. Dabei lag sein Boot in einem Seitenarm des Stadtflusses mittendrin in der pulsierenden Hauptstadt. Noch war alles ruhig. Er ahnte nicht, dass er heute noch eine stressbringende Entscheidung treffen sollte.
Hardy genoss den Blick auf das gekräuselte Wasser, das mit der leichten Brise des warmen Frühsommerwindes zu spielen schien. Er tippte, wer von seinen Gästen zuerst eintraf. Sein Boot lag versteckt. Der Weg war schwer zu finden. Für Hausboote gab es nur selten Hausnummern und zu diesem Liegeplatz gab es unterschiedliche Ansichten, über den besten Weg. Der eine führte direkt eine steile Böschung von der Straße hinunter. Damit war er weder für Ledersohlenträger noch für hochhackige Pumps geeignet. Der andere war länger. Ein unscheinbarer Pfad, jenseits der Straße. Er führte unter der Brücke hindurch, zu seinem und den anderen Booten. Staubig waren bei dem trockenen Sommerwetter beide. Auf diesen Tag hatte er wochenlang hingearbeitet. Es war der Sendetermin seiner Reportage.
Cutter, Kameraleute und die Kollegen aus dem Büro hatten sich angesagt, das ganze Team samt Praktikanten. Der Holztisch auf dem Dach seines Hausbootes ächzte unter Fingerfood und Salaten. Grillen fiel aus. Er wollte sich heute keinen Tadel für verkohlte Würstchen einhandeln. Er genoss nach Wochen der Anspannung einen merkwürdig relaxten Zustand. Die Vorbereitung in der Küche war Erholung für ihn. Salate und Gemüsestreifen schnippeln, Pflaumen im Speckmantel braten, Schafskäses überbacken. Nach wochenlangem Döner- und Pizzakonsum genoss er die Zeit in seiner Küche.
Nach Recherche, Dreh und Schnitt verfiel er regelmäßig in einen Zustand, in dem er von außen auf sich herab sah. Ein Blanc de Noir, feinherber Spätburgunder vom Weingut Schüler-Katz aus Kiedrich, tat sein übriges. Die Melodie von Pink Panther holte ihn ins Hier und jetzt. Das müssten seine ersten Gäste sein, die den Zugang zum Liegeplatz nicht fanden, dachte er. Er stutzte, als er den Anruf mit unterdrückter Nummer entgegennahm.
»Frank hier, hallo Hardy«, hörte er eine leise matte Stimme. Hardy musterte das türkisfarbene Etikett des Weines. Er musste lachen. Um den Anrufer nicht zu verschrecken, drückte er seinen Daumen auf das Mikrofon. Wer um Himmelswillen war Frank und hörte sich an, als wollte er auf ein Bier vorbeikommen? Hatte er seine Nummer und die Feier aus Versehen bei in seinen Social Media Kanälen veröffentlicht? Mit starrem Blick auf das Etikett, kramte in den Windungen seines Gehirns.
»Frank!«, rief er zu laut und zu gut gelaunt in sein Telefon. Seine Stimme gaukelte Vertrautheit vor. Er hoffte, dass sein Gegenüber mehr von sich preisgab. Seine Mobilnummer hatte 25 Jahre und zahlreiche Anbieterwechsel überlebt. Daher kam es vor, dass sich Menschen bei ihm meldeten, die er vor Jahren bei der Arbeit oder auf Reisen getroffen hatte.
»Es tut mir leid, dass ich dich überfalle. Mir ist kein anderer eingefallen.« Schmeichelhaft dachte Hardy in einem Anflug von Selbstironie. Jetzt müsste er nur noch wissen, wofür. »Bin nach dem Studium in der Politik gelandet, lebe jetzt in Waren an der Müritz. Wir haben quasi an der Uni die Grundlage für meine Zukunft gelegt.«
Soll vorkommen, dachte Hardy. Ihm schwante langsam, wer ihm da einen Abriss seines Lebens gab. Die Stimme hatte sich, trotz der Jahre, nur wenig verändert. Etwas, reifer klang sie. Er schmunzelte. Das war eine Beobachtung, die er nur bei anderen machte. Seine Vermutung, hob seine Laune nicht.
»Party-Frank, na das ist aber eine Überraschung.«, platze es aus Hardy heraus. ›Verdammt‹, dachte er, einen Wimpernschlag später. Sei vorsichtig, du weißt nicht, was der Menschen am Telefon heute macht. Vielleicht ist er Rechtsanwalt und auf Beleidigungen am Telefon spezialisiert. Und betrachtet seinen ehemaligen Spitznamen heute als solche. Schöne Grundlagen waren das. Party-Frank konnte er beim besten Willen mit nichts anderem als Bier und Partys in Verbindung bringen.
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