Im Laufe der Jahre hatten sie ihr Strahlen verloren. Seit sie Steffen geheiratet hatte, fehlte ihr etwas. Ich dachte immer, sie gäbe sich damit zufrieden, im Leben eben nicht das Glück geschenkt bekommen zu haben, das uns die Liebesfilme und Romane unserer Jugend versprachen. Nie zuvor hatte ich erlebt, wie ein bei der Trauung gehauchtes, kaum wahrnehmbares „Ja!“ so klang, als würde jemand gerade bewusst auf alle Emotionen verzichten, die das Leben schenken konnte. Eigentlich verkörperte sie seit ihrer Heirat nur noch das Traurige, schien mit allem abgeschlossen zu haben. Daran änderte auch die Geburten ihrer inzwischen erwachsenen Töchter nichts. Wo waren die Jahre nur geblieben, wo war Sven nur geblieben, ja, wo war er eigentlich? Wie kam ich nur gerade jetzt auf ihn? Na gut, ich hatte mir immer für Britt gewünscht, dass Sven sie eines Tages zur Frau nehmen würde, aber dann war er sang- und klanglos verschwunden und am Ende hatte sie eben Steffen Hansen geehelicht. Vermutlich kam ich gerade auf Sven, weil ich seit gut dreißig Jahren, seit er fort war, Britt nicht mehr in einem solchen Zustand erlebt hatte.
Ich bat sie, uns einen Kakao zuzubereiten. Derweil holte ich mein Notebook aus dem Wintergarten und setzte mich zu ihr an den Küchentisch. Wir zündeten eine Kerze an, dimmten das Licht, ich öffnete ein neues Dokument, legte einen Ordner an und schrieb eine Überschrift, die mir in den Sinn kam:
Flo ... Momente des Lebens
Mit diesen Worten war ich endgültig hineingezogen worden in Britts Geschichte. Unwiderruflich. Jetzt saß ich in diesem Flieger und fürchtete um mein Leben? Die „kleinen Turbulenzen“, über die der Kapitän mit sanfter Stimme auf Deutsch und dann auf Schwedisch plauderte, schüttelten den Flieger durch und ich war nicht die Einzige an Bord, die sich völlig verkrampft hatte. Ich sah aus dem Fenster und versuchte mich abzulenken.
Nachdem ich Britt mit der Aufgabe, Kakao für uns zuzubereiten, wieder ins reale Leben gezerrt hatte, rückte sie mit ihrem Plan heraus.
„Das hier ist die Geschichte, nach der du dein Leben lang gesucht hast, Hanna!“, strahlte sie mich an.
Hatte ich nach einer Geschichte gesucht? Ich konnte mich nicht erinnern. Wenn ich eines im Überfluss hatte, dann waren es gute Stoffe, und meine Leser und die Verlage wussten das. Nein, ich konnte mich nicht erinnern, jemals etwas Derartiges geäußert zu haben. „Hä?“, fragte ich also folgerichtig.
„Doch, doch! Die wahre Liebe, die alles verändernde, alles beantwortende Liebe! Erinnerst du dich nicht? Du hast gesagt, du würdest erst an sie glauben, wenn sie dir begegnet und du würdest daraus sofort einen Bestseller schreiben, sollte dir mal die richtige Story über den Weg laufen.
Und, voilá!, hier kommt sie jetzt!“
„Moment mal, Kleines!“, versuchte ich sie wieder zu erden, aber an der Art, wie sie verzückt in ihrem heißen Schokoladengetränk rührte, erkannte ich, dass sie bereits wieder bei den Flöhen war, Verzeihung, bei Flo .
„Wir haben uns doch erst vor ein paar Tagen das letzte Mal gesehen, da hing der Himmel für dich noch nicht voller Geigen. Willst du mir erzählen, dir sei die wahre Liebe begegnet?“ Ich konnte nicht glauben, was sie da sagte.
„Naja, noch nicht so richtig, aber ich bin auf dem Weg zu ihr, sie hat mich gefunden. Er hat mich gefunden. Flo ist da!“
Nicht schon wieder, dachte ich. „Und was kann ich für dich tun?“
Ungläubig riss sie die Augen auf. „Na, was wohl? Darüber schreiben!“
„Worüber?“
„Über Flo und mich, natürlich!“
„Aber da gibt es doch noch gar nichts zu erzählen!“
„Das ist doch gerade das Tolle!“, schwärmte sie und mich beschlich die Ahnung, dass sie von der Arbeit einer Autorin nicht allzu viel verstand. Entweder wir denken uns unseren Stoff aus, planen ihn in Gedanken durch und schreiben ihn auf, oder wir blicken auf etwas, was andere schon erlebt haben und schreiben darüber. Nur wenige von uns schreiben über etwas, was noch niemand erlebt hat.
„Ich soll einen Science Fiction schreiben?“, fragte ich also irritiert.
„Nein, Dummkopf!“ Liebevoll streichelte sie über meine Hand, die auf dem Tisch lag, so, als würde sie einer dementen alten Dame erklären wollen, dass sie heute ganz gewiss nicht vor den Altar treten müsste.
„Was denn dann?“
„Ich nehme dich mit auf meine Reise ins Glück. Du schreibst sozusagen am Puls der Zeit, verstehst du?“
„Nein.“
„Hanna, nun tue mir doch den Gefallen!“, flehte sie und ich begann zu begreifen, dass ich die Option auf ein herzhaftes „Nein“ nicht mehr hatte. Im Gegenteil. Meine liebe kleine Britt war so aufgewühlt, so von den Socken, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Sie war davon überzeugt, dass sie dabei war, ein Wunder zu erleben, ein regelrechtes, einmaliges, heiliges Wunder, und dass ich mich mehr als glücklich schätzen durfte, Augenzeugin desselben zu werden. Meine Güte, wie sollte das gehen?
„Ich werde dich mit allen Informationen versorgen, ja? Tagesaktuell. Du sammelst sie, ja? Dann schreibst du was darüber.“ Sie nickte mir aufmunternd zu. „Du kannst so schön formulieren, mir fällt niemand ein, den ich lieber darum bitten würde, als dich, meine liebste und älteste Freundin, meine Hanna!“
Was hätte ich sagen sollen? Scher dich zum Teufel? Nein, nein, das kam nicht in Frage. Ich merkte, wie sich mein Magen zusammenzog. Mir fehlte, das wusste ich genau, das Voyeur-Gen vollkommen. Es bereitete mir großes Unbehagen mir vorzustellen, dass ich nun die intimen Details einer sich aufbauenden Beziehung durchstöbern sollte, um daraus die Quintessenz zu ziehen, die sich für eine literarische Verdichtung eignen könnte. Und, wenn ich das mal heimlich denken durfte: Niemand wusste, ob dieser Typ, in den sich meine traurige, stets sachliche Britt scheinbar Hals über Kopf verliebt hatte, nicht vielleicht jemand war, der es auf ahnungslose Frauen abgesehen hatte.
Das Flugzeug sackte unvermittelt ab und mein Schrei mischte sich mit denen der anderen Fluggäste. Himmel nochmal! Wenn ich eines nicht ausstehen konnte, dann Reisen, auf denen sich mein Magen drehte und mir übel wurde.
Um mich abzulenken, öffnete ich meine kleine Reisetasche. Darin befanden sich das bisherige Manuskript und eine Auswahl aus zahllosen, zum Teil vollkommen unlesbaren, unbeschreiblich kitschigen wortgetreuen SMS- Abschriften und endlosen Emails, die Britt mir im Laufe der letzten Monate in die Hand gedrückt hatte. Wenn ich an die Berge von Papier dachte, die ich nicht mitgenommen hatte, weil sie inzwischen zahlreiche Ordner füllten, und wenn ich sah, wie fein und überschaubar das war, was ich bisher geschrieben hatte, dann erfüllte mich dieses mit Stolz, aber auch mit großer Sorge. Verdammt, konnte der Pilot nicht ein bisschen Gas geben? Ich musste zu Britt! Dringend!
SMS-Nachricht:
Donnerstag, 8:52 h - 01.12.11, irgendwo in Deutschland:
Alles ok Anna. Die Technik läuft, bis später – LG Britt
SMS-Nachricht:
Donnerstag, 9:23 h - 01.12.11, in einer anderen Ecke von Deutschland:
Guten Morgen!
Falsche Nummer, ich bin nicht Anna!
„Ups …!“, Britt schaute auf die eingegangene SMS und starrte sie an. Sie war zunächst so überrascht, dass sie sich allen Ernstes fragte, wohin sie nun diese Antwort sortieren sollte.
Sie hatte gerade ihren Dienst im Büro angetreten und eine technische Information per SMS weitergeleitet. Ihr Chef war plötzlich erkrankt und fiel somit für einige Tage aus und darum hatte sie ihre Kollegin Anna angeschrieben, um sie zu informieren, dass alles in Ordnung war.
Doch nun starrte sie auf ihr Handy und grübelte. Ihre ersten Gedanken galten ihrer Kollegin, die nun nicht unterrichtet war, doch hatte sie auch nicht wirklich eine Idee, wie sie ihre richtige Handynummer erfahren konnte. Aber sie fand es sehr freundlich von dem oder der Unbekannten, sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass ihre Nachricht beim falschen Empfänger gelandet war. Zudem war es für sie selbstverständlich, sich dafür kurz zu bedanken und somit antwortete sie.
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