Und obwohl mir bewusst war, dass sich die letzten Nächte stark auf mein Urteilsvermögen ausgewirkt hatten, vieles wohl nicht so war, wie es momentan schien, war ich mir, trotz meiner, durch den Schlafmangel stark verzerrten, Selbstwahrnehmung, über eines völlig im Klaren: egal wie fehlerfrei und perfekt formuliert diese Arbeit war, ich konnte sie auf keinen Fall heute in die Druckerei schicken. Die Deadline war zwar erst in ein paar Stunden, aber das würde an meinem Entschluss nichts ändern: Die Arbeit war nicht bereit. Ich war nicht bereit.
Dennoch konnte ich den Einfall, ob dieser ganze Druck, diese Angst und meine Unfähigkeit zu schlafen oder mittlerweile sogar klar zu denken, weg wären, sobald ich die Arbeit abschicken würde, nicht unterdrücken. „Einfach mailen und all deine Probleme sind mit einem Schlag weg“, doch so verlockend der Gedanke klang, ich konnte es nicht. Diese 60 Seiten waren so fürchterlich unprofessionell, ihre Schlussfolgerungen wahnsinnig weit hergeholt und substanzlos – ja teilweise sogar erfunden. Ich war davon überzeugt, würde man meine Arbeit endlich genau lesen, anstatt sie lediglich zu überfliegen, würde der Schwindel auffliegen. Wenn ich Glück hätte, dürfte ich eine neue Arbeit schreiben, was der reinste Albtraum für mich wäre. Wenn ich Pech hätte, würde ich der FH verwiesen wegen Betrugs und hätte somit drei Jahre meines Lebens umsonst studiert.
Die Leute würden sich die Mäuler zerreißen, darüber wie ich es so knapp vor dem Abschluss nicht schaffte und scheiterte; es war etwas, was nur ich zustande bringen konnte, mit einer vollendeten Thesis durch das Studium zu rasseln. Sie würden spotten, dass ich mir einfach zu viel angemaßt hatte, bei der Versicherung hätte bleibe sollen. So gut hätte ich es dort gehabt, würden sie sagen, doch ich hätte gedacht, ich wäre etwas Besseres, müsste studieren, doch nicht jeder wäre intelligent genug für ein Studium. Sie würden mich dafür belächeln, dass ich versuchte, der Arbeiterklasse, der Mittelschicht zu entfliehen und doch so kläglich gescheitert war. Und meine Mutter erst, sie hielt so viel von mir und schließlich würde ich sie so bitterlich enttäuschen. Sie würde es mir nie sagen, aber ich würde es wissen.
Die letzten Tage hatte ich schon vorgebaut für den Fall der Fälle, hatte hin und wieder deponiert, dass ich mit dem Studium nie glücklich gewesen wäre und seit dem ersten Semester abbrechen wollte. Lauter mehr oder weniger subtile Hinweise für sie, damit es ihr leichter fallen würde, über mein Scheitern hinwegzusehen. Doch es brachte nichts, immer derselbe Blick in ihrem Gesicht, wenn ich ihr davon erzählte, wie sehr ich dieses Studium hasste und eigentlich doch gar nicht in diesem Bereich arbeiten wollte. Der Blick, den ich so quälend empfand. Der Blick, der sagte: „Da musst du jetzt durch, da kann ich dir nicht dabei helfen – du bist auf dich allein gestellt. Kopf hoch, du schaffst das schon, wir glauben alle an dich!“. Ach, wie ich diesen Blick hasste. Und dennoch – wenn Themen ernst wurden, war meine Mutter meine erste und einzige Anlaufstelle. Nichts war mir unangenehm vor ihr. Seit ich mich erinnern konnte, war das schon so.
Abermals schilderte ich ihr, wie schlecht die Thesis war und dass ich diese unmöglich in die Druckerei schicken konnte. Wie immer sah sie mich fragend an und antwortete in standardisierten Phrasen. Ich fuhr fort und fragte sie, ob es sein könnte, dass all meine Probleme gelöst wären, würde ich doch nur diese Arbeit absenden. Wieder dieser nichtssagende Blick, doch nach einigen Minuten hatte ich sie endlich so weit: sie bestätigte mir, dass ich die Arbeit abschicken und einfach darauf warten sollte, was passieren würde; dass sich, mit Einreichen der Arbeit, vielleicht all meine Probleme lösen würden.
Obwohl ich wusste, dass – sobald ich die Arbeit abgeschickt hätte – mich auf Economics vorbereiten müsste, war ich für einen Moment euphorisch. „Eines nach dem anderen“, sagte ich mir und begab mich zurück zu meinem Laptop mit der sendebereiten E-Mail für die Druckerei. „Sobald du diese Arbeit abgeschickt hast, wirst du sehen, dass sich alles ändert. Dein Kopf wird klar und du wirst wieder ganz der Alte, der dem die Welt offensteht. Der, der bald von den Frauen geliebt wird und seine Verwandten in seine Luxusvilla im Ausland einlädt. Nur noch ein Mausklick und ich du bist deinem Ziel einen Riesenschritt näher. Deine Mutter hatte es dir doch erst soeben bestätigt, wenn du es dir nicht selbst glaubst, dann vertraue doch zumindest auf ihren Rat”, predigte ich.
Doch ich saß erstarrt vor meinem Laptop und mir wurde bewusst, wie sehr ich mir eine Person in meinem Leben wünschte, welche mir praktischen Rat statt leerer nichtssagender Anfeuerungen geben würde. Ich wünschte mir einen Vater.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Sie hatte mir noch nie einen Ratschlag gegeben und ich erkannte ein immer wiederkehrendes Muster in unserer Beziehung. Wenn ich mir wobei unsicher war, redete ich ihr für gewöhnlich so lange ein, was ich gerne von ihr hören wollte, bis sie so weit war, es zu wiederholen. Diese Bestätigung war dann mein Ratschlag. Egal ob es eine neue Frisur, ein neues Fahrrad oder eine Beziehung zu einer Frau war. Was immer ich hören wollte redete ich ihr so lange ein, bis sie mich bestätigte, denn ich war unfähig, ohne ihre Bestätigung etwas zu entscheiden. Ich fühlte mich so heuchlerisch, hatte ich sie doch nie um ihre aufrichtige Meinung gefragt. Jahrelang hatte ich sie somit manipuliert und zu meinem persönlichen Ja-Sager geformt.
Ich schämte mich zutiefst, da ich nun sah, wie ich sie jahrelang für meine Zwecke benutzt und manipuliert hatte. Den einzigen Menschen, der mir je etwas bedeutet hatte. Voller Reue peinigte ich mich für mein Fehlverhalten und schwor mir, es in irgendeiner Form wieder gut zu machen: Der Sohn zu sein, welchen sie verdiente.
Ich könnte mein Erspartes nehmen und ein Grundstück neben ihrem Haus kaufen. Wir könnten den Hühnerstall ausbauen und ich, den Rest meiner Tage als Bauer verbringen – natürlich kein gewöhnlicher Bauer, sondern Bio-Bauer, das würde meiner Mutter gefallen, denn sie liebte regionale, nachhaltige Produkte. Diese Leidenschaft für Nachhaltigkeit und bewusste Ernährung verband mich mit meiner Mutter. So könnte ich meine Fehler gut machen und wir alle glücklich werden. Für einen Moment war ich entspannt.
Mein Stiefvater sah fern auf der Couch, irgendein belangloses Fußballspiel. In jenem Moment blickte ich auf sein Leben herab, es kam mir vor, als würde der Mittelpunkt seines Daseins Fußball und Bienen sein. Schuldgefühle überkamen mich. „Du darfst so etwas Gemeines nicht denken; niemals, er war immer gut zu dir“, rügte ich mich. Ich dachte an den Tod. Meine innere Stimme fragte mich: „Und, wenn er jetzt stirbt? Was, wenn ihn deine bösartigen Gedanken töten, so wie damals deinen leiblichen Vater? Wie sollte deine Mutter das je verkraften, einen zweiten Mann zu verlieren? Deine Gedanken sind stark und können sehr viel Schaden anrichten, das solltest du doch schon wissen!”
Ich wurde panisch, nicht schon wieder diese Gedanken, ständig sprachen sie davon, dass ein geliebter Mensch sterben könnte. Ich konnte nichts gegen sie machen, wusste nicht, wie ich sie abstellen konnte, konnte sie lediglich entschärfen, indem ich jedes Mal unzählige Gebete in den Himmel, Gott anflehte, diese Gedanken nicht real zu machen. Denn ich war davon überzeugt, dass Gedanken Wirklichkeit werden und Menschen töten konnten. Ich hatte solche Gedanken auch damals, als Papa verschollen war.
Oft nächtigte er auswärts, arbeitete sehr viel. Einmal hatte ich mir dann gewünscht, dass er für eine Nacht nicht nach Hause käme, damit ich mit meiner Schwester bei meiner Mutter im Bett schlafen könnte. Mein Wunsch wurde erhört; er kam jedoch nie wieder nach Hause.
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