Seit diesem kurzen Moment hatte ich es nicht mehr geöffnet. Monatelang hatte ich es lediglich als PDF-Datei auf meinem Laptop und versteckte es in einem Unterordner, um es nicht zufällig zu sehen und daran erinnert zu werden. Dieser Unterordner funktionierte wie mein Unterbewusstsein und bot Platz für all die Dinge, welche ich verdrängen musste.
Erst vor wenigen Tag, als ich die herannahende Prüfung, ob der zahlreichen Ankündigungen und Warnungen des Professors, nicht zu spät mit dem Lernen zu beginnen nicht länger leugnen konnte, druckte ich das Skript aus. Eilig und ohne genau hinzusehen, hatte ich das Skript damals aus dem Drucker genommen und gelocht, damit ich es, so schnell wie es ging wieder verstecken konnte, vom virtuellen in einen echten Ordner. Die paar Zeilen, welche ich damals, während des Lochens und Einordnens, unbewusst registriert hatte, machten mich seither noch nervöser.
Der Professor kam von der Universität und hatte uns gleich in der ersten Vorlesung klargemacht, was er von Fachhochschulen hielt und wie gravierend der Niveauunterschied zu einer Universität sei, ja nicht einmal vergleichen dürfe man diese zwei Dinge. Vom ersten Treffen an bereitete er mir Unbehagen.
Seine elitäre Art, wie er sprach und sich kleidete. Sein beeindruckendes Wissen und seine unheimlichen Verschwörungstheorien. Er machte mir Angst, seine düsteren Ausblicke, dass wir es alle schwer haben werden, wenn die Flüchtlinge kommen und viele auch keinen Job finden werden. Dass das System, so wie wir es kennen, bald kollabieren wird – er aber abgesichert sei, da er viele Immobilien und Gold besitze.
Er beschäftigte mich, ich war schon oft außergewöhnlich intelligenten Menschen begegnet, er war jedoch nicht wie einer von ihnen: Sie alle hatten ihre Intelligenz und ihr Wissen meist durch harte Arbeit und viel Studium erlangt, er wirkte jedoch, als wüsste er Sachen, die man in normalen Büchern nicht lesen konnte. Er kam mir vor wie ein Bösewicht aus einem nicht veröffentlichten James Bond Streifen und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er Zugang zu Informationen und Wissen hatte, welcher nur wenigen Eliten in diesem Land gewährt wurde. Eine geheime Gruppe, welche das Land, die Wirtschaft und uns alle wie Schafe steuerte und er mittendrin. Er blieb diskret, konnte nie etwas à la Illuminati oder Freimaurer erzählen, doch er verschwieg etwas; es war die Gewissheit und Arroganz, fast schon Freude, welche er ausstrahlte, als er uns von bevorstehenden Bürgerkriegen und Schreckensszenarien berichtete.
Noch nie war mir eine so präpotente und zugleich charismatische, beeindruckende Person begegnet. Nach außen hin hasste ich ihn, innerlich faszinierte er mich. Fürchterlich regte ich mich immer auf über ihn, meine Kollegen lachten nur darüber und fragten, warum ich ihn überhaupt ernst nehmen würde, einfach ignorieren sollte ich ihn. Sie nahmen, das was er so von sich gab, nur teilweise ernst, belächelten Vieles. Sie sahen einen paranoiden Mann, welcher sich selbst wichtiger nahm als er es in Wahrheit war, doch ich konnte diese Meinung nicht teilen, zu sehr erschütterte er wöchentlich mein ideales Weltbild mit seinem unheimlichen Grinsen.
Er erzählte von einer Welt, außerhalb der meinen: Einer Welt voller Gefahren und Korruption, voller dunkler Geheimnisse, Habgier und Gewalt. Einer Welt, die mir Angst machte und so beschloss ich, ihn zu verabscheuen und versuchte meine Kollegen von seiner Boshaftigkeit zu überzeugen, damit ich nicht allein war, allein mit meiner Angst vor ihm und seinen Worten. Doch sie hatten mich im Stich gelassen und sich dafür entschieden, ihn einfach zu ignorieren. Nur meine Mutter nicht, sie verbündete sich mit mir und das, obwohl sie ihm noch nie begegnet war; so eine gute Mutter war sie, sie hasste sogar die Personen, die ich hasste.
Seit sein Kurs vor zirka 4 Monaten begonnen hatte begleitete mich ständig diese Angst. Ich wusste nicht genau, woher sie kam oder wovor ich mich fürchtete, doch sie war ein ständiger Begleiter der letzten Monate. Anfangs dachte ich noch, es wäre eine Kombination aus den vielen Terrormeldungen und den düsteren Zukunftsaussichten, die uns dieser Wirtschaftsprofessor vermittelt hatte – überall lauerten Gefahren, die Welt hatte sich zu einem äußerst gefährlichen Ort entwickelt und ich war nur mehr zu Hause, im Haus meiner Mutter, sicher.
Es war seltsam; Zwar war ich nie der mutigste: richtig ängstlich war ich trotzdem schon lange nicht mehr. Zuletzt vermutlich während der Zeit, wo mein Vater unauffindbar war, nach seiner Todesmeldung und der Gewissheit, meine Mutter würde bei uns bleiben und den Schicksalsschlag überstehen, legte ich mir ein dickes Fell zu und ließ mich nicht mehr erschüttern oder verängstigen – bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls.
Kurz kam mir der Gedanke, dass die stärker werdenden Angstzustände mit meinem, seit einigen Wochen ziemlich verstärkten Marihuanakonsum zusammenhängen könnten. Schnell verdrängte ich den Gedanken aber auch wieder, da es absurd war – Marihuana meine Angstzustände maximal lindern würde, keinesfalls jedoch verschlimmern, wusste doch jeder, dass diese Droge gute Laune machte. Und dennoch konnte ich den Gedanken nicht loswerden. verspürte ich diese generelle, nicht begründbare Angst mehr als zuvor, speziell nach einem Besuch bei einem Bekannten am letzten Wochenende. Ich dachte an die besagte Nacht:
Er wollte Hasch Brownies probieren;
also packte ich welche, die ich von einem Mitbewohner bekommen hatte, ein und fuhr zu ihm. Ich hatte es selbst erst zweimal probiert und wusste, dass die Wirkung recht heftig war und ich es eigentlich nicht mehr tun wollte. Bei den ersten Malen wurde ich paranoid und hatte mich nur schwer im Griff, doch ich hatte einen Ruf zu verteidigen: Viel war ich schon auf der Welt herumgekommen und noch mehr hatte ich ausprobiert, das konnten nicht viele von sich behaupten. Ich wusste, dass mich dieser Freund dafür bewunderte und stolz war, einen so weitgereisten und abenteuerlustigen Draufgänger als Freund zu haben.
Bei ihm angekommen war alles in Ordnung; in seiner Gegenwart fühlte ich mich relativ wohl, was sehr selten war außerhalb meines Elternhauses. Er war mir ähnlich und so ziemlich der einzige Mensch, bei dem ich fast ich selbst sein konnte. Doch die anfängliche Freude verflog bald, als er mir erzählte, dass eine Freundin, welche ich nicht ausstehen konnte, ebenfalls zu Besuch vorbeikommen würde.
Er erzählte mir, dass er schon öfters mit ihr geraucht hätte. Schlagartig fühlte ich mich minderwertig – immerhin war ich doch die Person, mit der er das tat. Und überhaupt, was wusste diese Freundin schon? Sie war ordinär und unterklassig und es störte mich, dass er überhaupt Zeit mit ihr verbrachte, denn jemand, der mich als Freund hatte, konnte doch unmöglich mit einem Menschen wie ihr befreundet sein!
Nach den ersten paar Zügen an ihrem mitgebrachten Joint, welcher verdammt stark war, von reinem THC sprach sie, konnte ich langsam mit den beiden mitlachen, obwohl mir noch immer bewusst war, wie ausgesprochen unlustig und primitiv das Gespräch war. Obwohl mich das THC wesentlich stärker beeinträchtigte als die anderen beiden, war ich mir noch immer meiner haushohen intellektuellen Überlegenheit bewusst, doch der meilenweite Niveauunterschied war mir unter Einfluss der Droge weniger ein Dorn im Auge. Selten zuvor war ich so high wie in diesem Moment.
Mittlerweile wurde, ohne dass ich gefragt wurde, beschlossen, dass die Freundin mit uns gemeinsam Hasch Brownies essen würde und nicht so wie von mir so sehnsüchtig antizipiert das Weite suchen.
Als wir dann im Wohnzimmer die Brownies aßen, fragte ich ständig, ob es denn allen gut ginge. Ich fühlte mich verantwortlich, weil ich A die Brownies mitgebracht hatte und B dachte, dass ich derjenige war, der das Zeug am besten vertrug. Hin und wieder kam leichte Panik in mir auf es diesmal übertrieben zu haben, Rauchen und Brownies gemeinsam, das hatte ich wirklich noch nie gemacht. Mit großer Mühe konnte ich jedoch meine aufkeimende Angst unterdrücken. Ich wusste, dass ich – sobald ich dieser freien Lauf lassen würde –auf einen wahnsinnig schlechten Trip geschickt werden würde.
Читать дальше