Alle zwölf Hebammen waren gekommen, um sich bei HfM für ihre Ausbildung zu bedanken. Eine der Hebammen, eine sehr junge wunderschöne Frau, mit einem langen blauen Rock mit gelben, schwarzen und weißen Verzierungen und einer blau-weiß karierten Bluse mit einem tiefen Ausschnitt, hatte selbst ein kleines Kind auf dem Schoß. Als das Kind unruhig wurde, griff die junge Frau in ihren Ausschnitt, holte eine Brust heraus und fing an, das Kind zu stillen. Für Radulf war dies ein so herzergreifendes schönes Bild, dass er es unbedingt fotografieren wollte. Natürlich fragte er die Frau zunächst, ob er sie fotografieren dürfe; sie gab zwar ihr Einverständnis, ließ allerdings ihre Brust wieder in ihrer Bluse verschwinden, sodass diese zauberhafte Symbiose von Mutter und Kind nicht mehr zum Tragen kam. Radulf konnte diese junge Frau ja schlecht darum bitten, ihre Brust wieder herauszuholen.
Anschließend fand eine Führung durch die verschiedenen Gebäude der Krankenstation statt, bei der der Chefarzt die einzelnen Geräte zeigte, die mit der Unterstützung von HfM angeschafft worden waren, natürlich ließ er es sich auch nicht nehmen, darauf hinzuweisen, welche Geräte noch dringend benötigt würden. Die Führung wurde auch von dem katholischen Pfarrer begleitet, der nicht, wie in Deutschland üblich, in tristem Schwarz gekleidet war, sondern er trug ein genauso leuchtend buntes Gewand wie die anderen Männer in Mali auch.
Dieser Pfarrer überreichte ihnen eine Einladung zum Haus des Bischofs, die sie selbstverständlich wahrnehmen wollten, da noch genug Zeit war. Der Bischof war allerdings nicht so bunt gekleidet, sondern er trug ein langes weißes Gewand, darüber eine lange silberne Kette mit großem Kreuzanhänger und eine weiße Takke auf dem Kopf. Er wohnte in einem großen Haus eines riesigen Komplexes mit mehreren Häusern und einer kleinen Kirche. Der Bischof gab ihnen einen ausführlichen Bericht über die Situation der Katholiken in einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Am Ende seines Berichtes kam er auf die finanzielle Situation zu sprechen und ließ durchblicken, dass er durchaus finanzielle Unterstützung gebrauchen könnte. Bogdan berichtete anschließend über die Aufgaben der HfM und erklärte, dass die Unterstützung der katholischen Kirche nicht dazu gehöre und dass außerdem auch ihre finanziellen Mittel sehr begrenzt seien.
Radulf war am Abend dieses Tages mal wieder sehr erschöpft, zumal sich die Strapazen natürlich langsam summierten, da immer nur sehr wenige Stunden für die Nachtruhe blieben. So war er schließlich doch ganz froh, dass es am nächsten Morgen zurück nach Bamako ging. Allerdings handelte es sich um eine fast achtstündige Autofahrt, die erneut sehr ermüdend war, obwohl man den ganzen Tag ja nur im Auto saß.
Sie verbrachten noch einige Stunden in einem Hotel, bis sie am Abend von einem Taxi zum Flughafen gebracht wurden. Dies war für Radulf das letzte Abenteuer in Mali: dass sich die Fenster in dem Taxi nicht schließen ließen, war bei diesen Temperaturen noch eher angenehm, da der Fahrtwind eine angenehme Abkühlung brachte. Weniger schön fand Radulf, dass sein Sitz nicht befestigt war und ständig hin und her rutschte, Das Ganze wurde jedoch noch übertroffen von der Tatsache, dass die Beifahrertür sich nicht richtig schließen ließ, sodass der Taxifahrer ihn bat, die Tür während der Fahrt zuzuhalten. Radulf war auf jeden Fall froh, als sie endlich den Flughafen von Bamako erreicht hatten.
Nachdem ihr Gepäck durchleuchtet worden war, wurde Radulf von einem Beamten in einen anderen Raum gebeten. War dies nun ein Déjà-vu oder hatte er das tatsächlich schon einmal erlebt, jedenfalls waren die Brillen ja nicht mehr da und außer ein paar bunten Stoffen hatte Radulf ja nichts in Mali gekauft.
Sie haben eine Schere dabei.
Nein, ich habe keine Schere dabei.
Auspacken!
Der Beamte klang nicht sehr freundlich und Radulf musste seinen gesamten Rucksack auspacken. Als ein Erste-Hilfe-Set auftauchte, forderte der Beamte, dass Radulf es öffnen solle. Zum Vorschein kam unter anderem eine etwa fünf Zentimeter lange biegsame Plastikschere, die der Beamte konfiszierte, sodass Radulf keine Möglichkeit mehr hatte, das Flugzeug zu entführen.
Endlich ging es zurück nach Paris, wo sie zu allem Überfluss noch ihren Anschlussflug verpassten, sodass sie fünf Stunden lang auf dem Flugplatz herumlaufen mussten, bis sie endlich nach Frankfurt zurück fliegen konnten.
In den nächsten Tagen hat Radulf täglich mindestens zehn Stunden geschlafen, wenn er wach war, verfiel er in eine depressive Stimmung, er hatte das Gefühl, vollkommen gelähmt zu sein, deshalb ließ er sich wegen angeblicher Magen-Darm Probleme einige Tage krankschreiben.
Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?
Wem künd‘ ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?
Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er keine Freunde hatte; Familie, Bekannte, Kollegen, aber keine wirklichen Freunde, mit denen er sich austauschen konnte, bei denen er sicher sein konnte, dass sie seine intimsten Probleme auch wirklich für sich behielten und sie nicht schon am nächsten Tag weiter erzählten.
Ein Kollege hatte ihm mal erzählt, dass er einen Freund habe, dem er nicht nur alles erzählen könne, der nicht nur alles für sich behielt, sondern der ihm auch in jeder Notsituation so sehr helfen würde, dass er nach jedem Gespräch mit ihm deutlich spürte, wie erleichtert er anschließend war. Dieser Freund sei absolut vertrauenswürdig und auch Radulf könne sich an ihn wenden, denn er sei für alle Menschen da; sein Name sei Jesus und dieser Jesus sei Gottes Sohn, er habe alle Schuld auf sich geladen und er sei für die Sünden aller Menschen gestorben, aber drei Tage nach seinem Tod sei er wieder von den Toten auferstanden und zu seinem Vater im Himmel aufgefahren. Bis zu seiner Wiederkehr habe er den Menschen Gottes Heiligen Geist geschickt und dieser Heilige Geist bewahre die Menschen, die an ihn glauben, vor allem Übel in der Welt.
Radulfs Eltern waren in der DDR aufgewachsen und hatten keinerlei Kontakt zu irgendwelchen religiösen Kreisen gehabt, deshalb hatte in seiner Familie auch das Thema „Gott“ fast nie eine Rolle gespielt. Wenn dieses Wort überhaupt fiel, dann wurde auch sofort versichert, dass es sich dabei nur um ein Instrument der Mächtigen handle, um das Volk auf den Sankt Nimmerleinstag zu vertrösten, damit sie ihre berechtigten Interessen gegenüber ihren Ausbeutern nicht erkennen oder gar gewaltsam durchsetzen würden.
Diese Gedanken hatten sich so sehr in Radulfs Kopf festgesetzt, dass er seinen Kollegen bat, ihn doch mit diesen dummen Faseleien in Ruhe zu lassen, für ihn sei das alles gequirlte Scheiße. Er war kein Sünder, was war das überhaupt für ein unsinniger Begriff, was sollte das denn bedeuten? Radulf war ein Mensch und Menschen machen Fehler, Menschen dürfen Fehler machen; jeder Mensch hat Fähigkeiten und Schwächen, Begabungen und Begrenzungen, aber das alles hat absolut nichts mit Schuld oder Sünde zu tun. Und schon gar nicht wollte Radulf, dass irgendein Mensch für ihn stirbt; er wollte leben und glücklich sein und er glaubte, dass alle Menschen das Recht haben, glücklich zu sein.
Andererseits spürte er, dass ihm im Moment etwas fehlte, das ihm Halt geben konnte, irgendein Mantra, ein Ritual, das ihm Ruhe und Zufriedenheit gegeben hätte. Deshalb beschäftigte er sich in den nächsten Wochen mit dem Buddhismus, dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Überall fand er Dinge, die ihn begeisterten und überall fand er Dinge, die ihn abstießen. Alle drei westlichen Religionen behaupteten zum Beispiel, dass es nur einen einzigen Gott gebe und dass ihr Gott der einzig wahre sei. Diese beiden Aussagen passten jedoch nicht zusammen, sie schlossen sich sogar gegenseitig aus; wenn es nur einen einzigen Gott gibt, was ja alle drei Religionen behaupteten, dann folgte zwangsläufig daraus, dass alle Religionen an ein und denselben Gott glauben und zu ein und demselben Gott beten. Es waren nach Meinung von Radulf also nicht die Religionen, die so viel Elend über die Menschen gebracht hatten, sondern es waren deren Institutionen, deren von Menschen festgelegten Ideologien.
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