Nach den Festreden begann eine faszinierende Musik- und Tanzveranstaltung wie Radulf sie noch nicht erlebt hatte. Zunächst hörte man den rhythmischen Klang von Djemben, der sich allmählich dem Kreis näherte, bis man die bunt gekleideten Männer sah, die im Rhythmus der Trommeln in den Kreis einzogen; sie wurden gefolgt von ebenso bunt gekleideten Männern, die die Djemben mit ihren Balafonen ergänzten.
Nachdem die Musiker sich im Kreis niedergelassen hatten, erschien eine Gruppe von Tänzern, alle barfuß und mit nacktem Oberkörper; sie trugen lediglich eine knielange Hose und darüber ein Baströckchen, in ihren Händen wedelten sie mit fächerartigen Federn. Diese jungen Männer tanzten im Rhythmus von Djembe und Balafon mit einer solchen Grazie und Anmut, dass man den Eindruck hatte, die Musik setzte sich in ihren Körpern fort, Musik und Tanz verschmolzen hier zu einer Einheit, ihre Körper wurden zu Musik, die schließlich viele der umstehenden Frauen ebenfalls in die Mitte des Kreises zog.
Nun wurden die Männer ergänzt durch bildhübsche junge Frauen in ihren leuchtenden bunten Kleidern, Röcken und T-Shirts. Blau, gelb, grün, braun, rosa, weiß. Dem schlichten hellbraun der Baströckchen der Männer wurde nun die großartige Farbenpracht der Frauen hinzugefügt und als diese das Ganze dann noch durch ihre hellen johlenden Stimmen ergänzten, entstand schließlich das Bild einer einzigartigen Lebensfreude, wie sie dem Europäer vollkommen fremd ist.
Unter den Männern fiel Radulf ein Tänzer ganz besonders auf; während die Frauen alle eine bunte Kopfbedeckung trugen, war er unter den Männern der einzige mit einer Kopfbedeckung und zwar einer sehr merkwürdigen. Er trug eine hellbraune Wollmütze und darüber war eine zweite Kopfbedeckung mit einem Lederriemen um sein Kinn befestigt. Diese zweite „Mütze“ war verziert mit hunderten bunter Punkte, bei denen die Farben gelb, rot und grün dominierten; an beiden Seiten befanden sich rechtwinklige, ohrenähnliche Fortsätze, auf denen jeweils eine kleine Figur stand. Doch das merkwürdigste war die Vorderseite dieser „Mütze“, an der sich ein vogelhausähnliches Häuschen befand, das weit über den Kopf hinaus ragte. Die Öffnungen dieses Häuschens zeigten am oberen und unteren Rand weiße quadratische Gebilde, die den Eindruck machten, als handle es sich um ein Gebiss, sodass man auch meinen konnte, es handle sich tatsächlich um einen überdimensionierten geöffneten Mund, dessen Rachen sich über den Kopf fortsetzte und in einem etwa zwanzig Zentimeter langen schwanzartigem Gebilde endete. Abgesehen von der symbolischen Bedeutung dieses Fortsatzes diente er natürlich auch zur Stabilisierung des ganzen Gebildes.
Neben dieser Besonderheit des jungen Mannes fiel Radulf auch seine außerordentliche Schönheit auf, diese ebenmäßigen Gesichtszüge und der für Afrikaner ungewöhnlich kleinen Nase, auch hatte er ungewöhnlich schmale Lippen, seine Haut war dunkelschwarz und glänzte, als sei sie mit einer speziellen Hautcreme eingerieben worden. Er war offensichtlich der Vortänzer der Gruppe und wie sich später herausstellen sollte, war er auch derjenige, der sich in Kotamani darum kümmerte, dass die Hilfsgelder aus Deutschland in entsprechende Projekte umgesetzt wurden, wozu in diesem Dorf vor allem die Errichtung von sanitären Anlagen und der Bau eines Schulgebäudes mit zwei Räumen gehörte.
Nach der Musik- und Tanzdarbietung erschienen noch einmal die Jäger mit ihren altertümlichen Vorderladern; im Gegensatz zu den meisten anderen Männern waren sie alle einfarbig in dunkelbraune Jacken und Hosen gekleidet.
Anschließend wurde den Gästen die typische afrikanische Mahlzeit gereicht. Dieses Mal hockten sie im Kreis um einen großen Topf Reis mit einem Stück Fleisch in der Mitte, Ziegenfleisch, wie Radulf später erfuhr. Natürlich hockten auch der Dorfälteste und der Bürgermeister mit ihren Gästen in der Runde. Neben Radulf hockte Akbash, der Tänzer mit dem merkwürdigen Gebilde auf dem Kopf, das er natürlich jetzt nicht mehr trug, auch war er jetzt vollständig gekleidet mit einem knielangen Hemd und einer Hose, beides natürlich in hellblau.
Akbash war um Radulf ganz besonders bemüht, indem er immer wieder ein Stück Fleisch in der Mitte des Topfes abrupfte und es an die Stelle warf, von der Radulf mit seiner rechten Hand aß. Anfangs kostete es Radulf schon einiges an Überwindung, dieses dargebotene Fleisch zu essen, doch er wollte auf keinen Fall unhöflich sein und je länger das Essen dauerte, desto normaler erschienen ihm diese Essensgewohnheiten.
Nach dem Essen wollte Radulf noch einige Fotos machen, doch er stellte fest, dass die Batterien in seiner Kamera leer waren, sodass er zum Auto gehen musste, um Ersatzbatterien zu holen. Selbst bei dieser doch recht einfachen Handlung war es für die Gastgeber eine Selbstverständlichkeit, ihn zu begleiten. Nachdem Radulf die Batterien in seinem Gepäck gefunden hatte, blieben sie noch eine ganze Weile neben dem Wagen stehen, weil Akbash ihm sehr viele Fragen stellte, die die Lebensgewohnheiten in Deutschland betrafen. Er erzählte Radulf, dass er seine Heimat sehr liebe, dass er aber sein Dorf unbedingt einmal verlassen wolle, um die Welt kennen zu lernen. Er hatte sich im Selbststudium Lesen und Schreiben beigebracht und er wollte sein Wissen weiter vervollständigen. Er würde so gerne Arzt werden und dann in sein Dorf zurück kehren, um seinen Leuten zu helfen.
Natürlich konnte Radulf ihm jetzt nicht helfen, aber er gab ihm seine Adresse und seine Telefonnummer in Deutschland für den Fall, dass er es jemals schaffen sollte, nach Deutschland zu kommen. Nachdem Radulf noch einige Fotos gemacht hatte, wurde es Zeit zum Aufbruch und zur Rückkehr nach Sikasso. Als Dankeschön schenkte der Bürgermeister seinen Gästen zum Abschied eine Ziege, die sie mit zusammen gebundenen Beinen hinten in den Wagen zu dem Gepäck legten.
Auf ihrem Rückweg hatten sie keinen Führer, was dazu führte, dass nicht einmal ihr einheimischer Fahrer aus diesem „Dschungel“ herausfand. Zum Glück sahen sie einen jungen Mann, der auf einem Feld arbeitete, der ihnen den „Ausweg“ genau beschreiben konnte. Nach einer weiteren halben Stunde blieb der Fahrer plötzlich stehen, sprang aus dem Wagen, öffnete die Heckklappe und zog das gesamte Gepäck heraus. Als Radulf nach hinten kam, konnte er sofort riechen, was passiert war: die Ziege hatte über das gesamte Gepäck uriniert und alles stank ganz fürchterlich. Da sie kein Wasser dabei hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als nach kurzem Lüften alles wieder einzuladen und die Fahrt fortzusetzen.
Nach diesen Strapazen waren alle froh, am Abend endlich wieder auf der Terrasse von Dikembes Haus zu sitzen und sich bei einem Tee zu entspannen. Die Ziege wurde neben dem Haus angebunden und man konnte endlich die stinkenden Taschen mit Wasser reinigen. Inzwischen hatte Radulf sich auch daran gewöhnt, dass der jüngste Sohn von Dikembe lauthals schrie, sobald er Radulf erblickte.
Auch an diesem Abend kam Aayana wieder zu Radulf in sein Hotelzimmer, dieses Mal war es Radulf, der sofort einschlief, nachdem sie sich einander hingegeben hatten. Als sie am Morgen vom Muezzin geweckt wurden, entschuldigte er sich dafür, dass er so schnell eingeschlafen war, doch Aayana schaute ihn an und sagte nur: „Ich liebe dich!“
Radulf hatte große Mühe, seinen Schrecken zu verbergen, denn damit hatte er auf gar keinen Fall gerechnet. Er wusste nicht, warum Aayana zu ihm gekommen war, was sie von ihm wollte, wie diese „Beziehung“ weiter gehen sollte. Aber unbewusst war er davon ausgegangen, dass beide eine wunderschöne Zeit miteinander verbringen würden, eine Episode, eine Affäre ohne Zukunft, denn schließlich lebten sie fast fünftausend Kilometer voneinander entfernt. Aber in einer solchen Beziehung durfte dieser Satz auf gar keinen Fall gesagt werden, dieser Satz war in einer solchen Beziehung der absolute Sündenfall.
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