Ich hatte eine kleine Tochter, sie hieß Annelie und sie ist mit fünf Jahren an Leukämie gestorben. Tagelang saß ich an ihrem Bett und schließlich, an ihrem letzten Tag, schaute sie mich an und fragte: „Mama, muss ich sterben?“ und ich antwortete: „Aber nein, mein Engelchen, was redest du denn da. Du wirst nicht sterben, du wirst wieder gesund, dann kannst du wieder mit deinen Freundinnen spielen und nächstes Jahr kommst du in die Schule.“
Annelie schaute mich mit einem traurigen Blick an, sie wusste, dass ich gelogen hatte. Erst später, zu spät, begriff ich, was da in meinem kleinen Engel vor sich ging. Sie hatte keine Angst vor dem Tod, sie hatte keine Angst, weil sie nie mehr mit ihren Freundinnen spielen würde und sie war nicht traurig, dass sie nie erfahren würde, wie es ist, in die Schule zu gehen. Sie wollte sich von ihrer Mama verabschieden, aber das ging ja jetzt nicht mehr, weil sie merkte, dass sie ihrer Mama damit sehr weh getan hätte.
Annelie war ein sehr braves Mädchen, sie liebte ihre Mama und sie tat immer alles so, wie ihre Mama es wollte, damit auch ihre Mama sie lieb hatte. Aber warum log ihre Mama sie dann jetzt an, hatte sie Annelie denn nicht mehr lieb? Warum nahm sie Annelie denn nicht in die Arme und sagte, dass alle Engel in den Himmel kommen und dass es dort sehr schön sein wird? Das erste Mal in ihrem Leben konnte sie den Wunsch ihrer Mama nicht erfüllen und deshalb hatte ihre Mama sie nicht mehr lieb, weil sie kein braves Mädchen mehr war.
Aber was sollte ich denn jetzt machen, ich konnte ihr doch nicht sagen, dass sie wohl doch sterben würde. Das ging einfach über meine Kräfte. Annelie wurde immer blasser und sie schlief immer häufiger ein. Noch am selben Abend ist sie gestorben. Ich habe sie lange in meinen Armen gehalten und habe immer wieder gesagt: „Bitte verzeih mir, bitte verzeih mir, mein kleiner Engel.“
Nach Annelies Tod hat Miriam nie wieder gesprochen, in ihrer Firma hatte man zunächst Verständnis für sie, doch nach einer Weile ließ man sie einfach vollkommen unbeachtet. Ihr Mann akzeptierte ihr Verhalten am Anfang als ihre Form der Trauer, doch nach einigen Monaten bat er sie, einen Therapeuten aufzusuchen. Nach einem Jahr war diese Situation für ihn nicht länger erträglich; er suchte sich eine andere Wohnung und ließ sich scheiden. Das war vor fünf Jahren.
Niemand hätte sagen können, was es wirklich war, das Miriams Zunge bei der Begegnung mit Radulf gelöst hatte. Aber nun saßen sie sich gegenüber, Miriams Tränen waren getrocknet und in ihrem Gesicht zeigte sich ein schwaches Lächeln, das die Peinlichkeit ihrer Beichte mildern sollte.
Von Anfang an herrschte zwischen Akbash, Radulf und Miriam ein so harmonisches Verhältnis als würden sie sich seit ewigen Zeiten kennen, auch in ihren politischen und religiösen Ansichten herrschte eine Übereinstimmung, die keiner von ihnen für möglich gehalten hätte. Natürlich waren alle drei enttäuscht, dass die Gruppe einfach nicht wachsen wollte, dass niemand Interesse an dieser Gruppe hatte, obwohl Radulf inzwischen sowohl die Präambel als auch die zwölf Weisen in der Presse veröffentlicht hatte. Aber mit der Zeit waren die drei so glücklich miteinander, dass sie sich vollkommen genügten und nicht mehr das Verlangen hatten, dass noch jemand zur Gruppe hinzustoße. Im Gegenteil, Radulf veröffentlichte die Termine der Gruppentreffen nicht mehr, da er befürchtete, ihr Dreierbündnis könnte durch eine weitere Person in seinem Zusammenhalt gestört werden.
Radulfs Vater, Ferdinand, wurde im Alter von zwanzig Jahren bei einem Fluchtversuch aus der DDR so schwer angeschossen, dass es Stunden dauerte, alle Kugeln aus seinem Körper zu entfernen. Nach seiner Genesung, er war für den Rest seines Lebens gehbehindert, kam er nach Hohenschönhausen, wo er die nächsten fünf Jahre verbringen sollte. Täglich holte man ihn aus seiner Zelle zum Verhör; wenn ein anderer Gefangener ihnen entgegen kam, musste er mit dem Gesicht zur Wand stehen bleiben, bis der andere Gefangene an ihnen vorbei war.
Der SED Funktionär wollte ihm einfach nicht glauben, dass Ferdinand seinen Fluchtversuch alleine geplant hatte und dass es keine Mitwisser gab. Was Ferdinand natürlich nicht wusste, war, dass er während der Verhöre mit Röntgenstrahlen bestrahlt wurde, von einem Gerät, das hinter einem Paravent versteckt war. Bei den Verhören saß Ferdinand auf einem Stuhl, dessen „Sitzfläche“ aus lauter spitzen Holzpyramiden bestand, die sich im Laufe des Verhörs immer tiefer in sein Fleisch hineinbohrten.
Eines Tages wurden die Schmerzen, die diese Spitzen verursachten, so unerträglich, dass Ferdinand aufsprang, über den Schreibtisch langte und dem Offizier eine Ohrfeige verpasste. Ferdinand wurde sofort abgeführt, aber er kam nicht in seine Zelle zurück, sondern er verbrachte die nächsten zwei Tage in einer etwa vier Quadratmeter großen Zelle ohne jegliche Einrichtung und ohne Fenster, der Fußboden war etwa zehn Zentimeter hoch mit Wasser bedeckt, sodass Ferdinand sich nicht einmal auf den Fußboden legen konnte. Abwechselnd mit der Stirn oder dem Rücken gegen die Wand gelehnt verbrachte Ferdinand die Zeit, bis er vor Erschöpfung auf die Knie sank und für ein paar Minuten einschlief.
Nach diesen zwei Tagen war Ferdinand physisch und psychisch so am Ende, dass er im nächsten Verhör alles gestand, was man hören wollte. Er hat von sich aus keine Namen genannt, sondern lediglich die Namen als Mittäter bestätigt, die ihm von dem Funktionär genannt wurden, die meisten davon kannte er nicht einmal. Da er nun in vollem Umfang geständig war, wurde er bereits nach fünf Jahren aus Hohenschönhausen entlassen.
Nach seiner Entlassung lernte Ferdinand die spätere Mutter von Radulf, Friederike, kennen, 1985 wurde Radulf geboren und nach dem Fall der Mauer zog die Familie nach Bad Herrenalb in den Westen. Als Radulf alt genug war, erzählte sein Vater ihm von seinen Erlebnissen in Hohenschönhausen und bat ihn, das niemals zu vergessen und immer auf der Seite der Freiheit zu stehen und sich stets für die Menschen einzusetzen. 2005 starb Radulfs Vater an den Spätfolgen der Folter in Hohenschönhausen.
Durch die Erzählungen seines Vaters war Radulf so beeindruckt, dass er sich schwor, niemals einem anderen Menschen irgendeinen Schaden zuzufügen, mehr noch, er wollte einen kleinen bescheidenen Beitrag zum Wohle der Menschen leisten und er war überzeugt davon, dass man den Hass dieser Welt überlieben könnte.
Als Radulf dreißig Jahre alt war, hatte er das Glück, zwei Vertreter von HfM, Hilfe für Mali, einer kleinen Hilfsorganisation nach Mali begleiten zu dürfen. Von Frankfurt flogen sie nach Paris und von dort mit der Air France nach Bamako.
Da Radulf gelesen hatte, dass in Mali Brillen so teuer sind, dass kaum einer sich eine Brille leisten kann, hatte er vor seiner Reise nach Mali in mehreren Spendenaufrufen darum gebeten, abgelegte Brillen für die Bevölkerung in Mali zu spenden. Dieser Spendenaufruf fand eine so großartige Resonanz, dass Radulf schließlich einen sehr großen Koffer voller Brillen mit nach Mali nehmen konnte.
Auf dem Flughafen in Bamako fiel dieser große Koffer natürlich sofort den Zollbeamten auf und Radulf wurde samt Koffer in einen Nebenraum gebeten und nachdem er den Koffer geöffnet hatte, spielte sich dann ein Dialog ab, der Radulf seinen ersten Eindruck von Mali vermittelte.
Zeigen Sie mir bitte die Einfuhrgenehmigung.
Ich habe keine Einfuhrgenehmigung.
Dann müssen Sie Zoll bezahlen.
Diese Brillen sind ein Geschenk für die Menschen in Mali, da können Sie mir doch jetzt nicht auch noch Zoll dafür berechnen.
Dann möchte ich eine Brille haben.
Sie können gerne eine Brille bekommen, aber ich kenne die Dioptrie der einzelnen Brillen nicht; die soll erst hier festgestellt werden.
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