Etwas in ihr machte jedes Mal Luftsprünge, wenn sie ihn sah.
»Hi!« Bereitwillig wartete Fee, bis er bei ihr angekommen war. »Musst du auch zur Versammlung?«
Natürlich musste er das, sonst kam er nur selten ins Hauptquartier, obwohl er als Oberhaupt eigentlich dort leben sollte. Egal, wie sehr man hinter seinem Rücken schimpfte, nahm er sich doch beharrlich diese Freiheit heraus. Wer sollte es ihm auch verbieten? Grey hatte keinen Anführer mehr, alle Entscheidungen trafen die Versammlungen demokratisch und bisher niemand darüber abstimmen lassen, ob Artnus ins Hauptquartier ziehen musste.
Er grinste jugendlich, obwohl er sonst so erwachsen wirkte. »Ja, stell dir vor, sie laden mich immer noch ein«, erklärte er sichtlich gut gelaunt, wenngleich er einer der letzten seiner Art war und daher wenig zu lachen hatte. Er war das Oberhaupt der Spürer, einer menschenähnlichen Art, die den Tod einzelner Menschen im Voraus spürte. Ihre Fähigkeit war nicht erblich, Spürer wurden als Kinder von nichtsahnenden Menschen geboren, und das schon seit beinahe zwanzig Jahren nicht mehr. Zum Überfluss wurden die verbleibenden Spürer von einer rätselhaften Krankheit dahin gerafft. Inzwischen waren sie nur noch zu dritt und Artnus mit seinen 29 Jahren war der Älteste.
Er allerdings nahm das mit einer Gelassenheit, für die Fee ihn immer wieder bewunderte. Er lebte friedlich und entspannt mit seinen letzten beiden Artgenossen in einem Haus, in dem es eher wie in einer Studenten-WG zuging, als in einer strengorganisierten Geheimorganisation.
Leider konnte Fee nicht einfach die Fraktion wechseln, obwohl es ihr so vieles erleichtert hätte und sie gerne bei den Spürern leben würde.
»Sag bloß, du wärst traurig, wenn sie dich nicht mehr einladen würden!« Sie zwinkerte ihm zu. Wenn sie sich mit ihm unterhielt, wurde ihr warm ums Herz, wohingegen sie sich sonst bei Grey zunehmend unwohl fühlte.
»Sicher, dann würde ich dich weniger sehen«, erwiderte er ungewohnt offen und Fee wurde unweigerlich rot. Natürlich wusste sie, dass Artnus sie sehr mochte, nicht nur als Freundin. Sie konnte auch nicht bestreiten, dass sie ihn mochte, mehr als alle anderen Männer. Aber diese Zuneigung war aus so vielen Gründen unpassend, das war ihnen beiden klar und bisher hatte er sich immer in Zurückhaltung geübt. Solche Äußerungen kamen selten von ihm und machten sie deshalb nervös.
»Ach was«, antwortete sie, während sie die verräterische Röte in ihrem Gesicht mit Willenskraft bekämpfte, »du kannst mich jederzeit besuchen, das weißt du.«
Er tat es auch, mindestens einmal pro Woche kam er vorbei und das, obwohl er und seine Artgenossen sonst einen großen Bogen um das Hauptquartier machten.
Artnus’ fast schwarze Augen strahlten bei dieser Beteuerung, indessen bewegte Fee sich langsam auf das Versammlungsgebäude zu. Der Spürer ging dicht an ihrer Seite, gerade mit ausreichend Abstand, dass er sie nicht berührte. Durchaus denkbar, dass es anders wäre, wenn sie nicht im Hauptquartier, sondern im Safe House der Spürer wären. Dort hätte Artnus vielleicht einen Arm um ihre Schultern gelegt, hier jedoch war er vorsichtig mit derartigen Gesten, weil man nie wusste, wer einen beobachtete.
»Du solltest mal wieder rauskommen«, begann er plötzlich, »wir könnten ins Kino gehen oder Eis essen.«
Verwirrt starrte sie ihn an, denn ins Safe House lud er sie oft ein, aber in die Stadt?
»Du meidest doch die Menschen«, entgegnete sie irritiert, schließlich hatte er das selbst entschieden. Artnus war überzeugt, dass die tödliche Krankheit der Spürer durch ihre Todesahnungen ausgelöst wurde, die wiederum nur bei einer Begegnung mit Menschen auftraten. Deshalb ging er Letzteren aus dem Weg. Da er der einzige Spürer über 25 war, schien seine Theorie nicht so abwegig.
»Einmal wird schon gehen.« Er zuckte gelassen mit den Schultern. »Du bist fast nur noch hier, das kann dir auf Dauer nicht gut tun.«
Fee sah sich zwischen den vier großen Gebäuden um. Von außen wirkten sie wie Büro- oder Laborgebäude, von der Außenwelt abgeschottet durch einen blickdichten Zaun. Die Gebäude lagen an den vier Ecken des Grundstücks und waren allesamt mehr als fünf Stockwerke hoch.
Sie gehörten den verschiedenen Fraktionen von Grey, die darin zentrale Einrichtungen für ihre Mitglieder unterhielten. Größtenteils waren die Gebäude allerdings Wohnhäuser, für diejenigen Mitglieder, die dort leben wollten oder mussten, auch Fee lebte in einer Zwei-Zimmerwohnung über der Hexenschule.
Daher hatte Artnus nicht ganz Unrecht, sie verbrachte in den letzten Monaten tatsächlich fast ihre gesamte Zeit im Hauptquartier.
»Ich könnte am Wochenende zu euch ins Safe House kommen. Ich bringe ein paar Filme und Popcorn mit«, schlug sie bereitwillig vor. Sie mochte die Spürer und ihr Domizil. Die Spürer haderten zwar ständig mit der Angst vor der tödlichen Krankheit, aber sie führten ein friedliches Leben ohne Magie und Machtkämpfe.
Artnus nickte, während sie am Gebäude der Vampir-Fraktion vorbeigingen.
»Eigentlich dachte ich eher, wir könnten mal etwas zu zweit unternehmen«, gab er zögernd zu. Offenbar hatte er gehofft, das wäre ihr klar.
Wieder spürte Fee die Hitze in ihren Wangen.
Ein Date.
Artnus wollte sie nach einem Date fragen und überschritt damit die Grenze, die sie beide bisher immer respektiert hatten. Die Grenze, die sie stillschweigend vereinbart hatten wegen all dieser Bedenken – der Angst vor der Krankheit, den fast zehn Jahren Altersunterschied und der Tatsache, dass sie zu verschiedenen Fraktionen gehörten.
Fee schluckte schwer und sah auf das vor ihnen liegende Gebäude der Hellseher.
Sie wollte Artnus keine Abfuhr erteilen. Sie mochte ihn viel zu sehr und unter anderen Umständen hätte sie nicht einmal gezögert, doch es waren keine anderen Umstände. Zudem hatte sie die Liebe mit gutem Grund aus ihrem Leben verbannt. Dafür war dort kein Platz, weil sie viel zu tief in Noctrius’ Machtkämpfe verstrickt war. Sie war nicht nur seine Stellvertreterin, sie war vor allem das Oberhaupt aller Mitglieder, die sich ausschließlich weißer Magie widmeten. Dadurch machte Fee sich nicht gerade beliebt, auch nicht bei ihrem Boss.
»Sollen wir nach der Versammlung zusammen essen?«, schlug sie unsicher vor. Es wäre natürlich kein richtiges Date, weil Artnus oft bei ihr aß, wenn er zu Terminen im Hauptquartier war. Aber immerhin konnten sie dann in Ruhe sprechen. Im Grunde musste er ja selbst wissen, dass sie kein Paar sein konnten.
»Von mir aus gerne. Dawn ist heute mit Kochen an der Reihe, da vergeht sogar Rosa der Appetit«, Artnus überging ihre Abfuhr lächelnd, als wäre nichts gewesen.
Vielleicht war es gerade die junge, glückliche Liebe des Spürer-Pärchens Rosalie und Dawson, die Artnus neuerdings auf die Idee für ein Date brachte. Es war durchaus verständlich, wenn das Liebesglück, das er nun täglich vor Augen hatte, Sehnsüchte in ihm weckte. Das konnte Fee gut nachvollziehen, denn ihr ging es nicht anders.
»Dann gib den beiden Bescheid, damit sie dich nicht vermissen.«
Er schüttelte den Kopf. »Das werden sie nicht. Ich habe ihnen schon gesagt, dass es später werden könnte.«
Fee seufzte, weil er sie damit an die bevorstehende Diskussion erinnerte. »Denkst du, die Versammlung wird so lange dauern?«
Gequält sah sie auf das Versammlungsgebäude zwischen dem Haus der Seher und dem Haus der Lichtwesen.
Artnus zuckte mit den Schultern. »Wer weiß.«
Von der Seite musterte Fee ihn nachdenklich. Wusste er, warum sie an diesem Nachmittag zusammengerufen wurden?
»Fee!«, brüllte Noctrius ungeduldig vom Eingang. »Du bist spät dran!«
Der Schwarzmagier verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, bis sie bei ihm ankamen. Natürlich galt sein vorwurfsvoller Ton in erster Linie der Tatsache, dass sie mit Artnus gesprochen hatte. Die Feindschaft der beiden Männer hatte eine neue Intensität erreicht, seit Noctrius die Lebensführung der Spürer überwachte. Ein Recht, das er sich herausgenommen hatte, nachdem Artnus vorgeschlagen hatte, die letzten Spürer von Grey zu lösen, damit sie ihre letzten Monate in Frieden verbringen konnten. Für Noctrius war das offenbar so etwas wie Hochverrat, dabei hatte er davor wenig Interesse an den Spürern gezeigt.
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