1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Er könnte neben dem Gehweg, vor einem Kaufhaus oder Bürohaus, ein Tulpenbeet pflanzen oder eines mit Stiefmütterchen; vielleicht auch eine Kastanienreihe.
Er könnte, neben dem Kiosk einer Straßenkreuzung, eine Puppenbühne aufstellen und die Passanten mit einer Puppenshow überraschen.
Er könnte sich selbst kostümieren und an irgendeinem Straßenschild Aufstellung nehmen; vielleicht als gepanzerter Ritter.
Er könnte singend und tanzend über das Pflaster hüpfen.
Er kam an einer größeren Bank vorbei: weitleuchtende spiegelnde Marmorimitationen, messingumrahmte Fenster und Türen.
Er stellte sich vor, an einen der Schalter zu treten, eine Pistolenattrappe unter dem Mantel, dabei einen Zettel: „10 000 €. Dies ist ein Überfall!“ Er ist an der Reihe, schiebt nun dem Mann seinen Zettel zu, lässt die Pistolenmündung unter der Handfläche blitzen, der Mann begreift, zerrt nervös ein paar Geldbündel aus den Schubladen, da er die Mündung unverändert auf sich gerichtet sieht, immer noch weitere; jetzt schiebt er sie ihm durch das Schalterglas zu.
Jonas steckte sie ein. Ging, war verschwunden im Menschengewühl.
Es könnte ganz leicht sein.
Und sein ganzes Leben wäre verändert damit, frei von finanziellen Sorgen und Zwängen – wenigstens für die Dauer einiger Jahre.
Oder er würde gefasst; in Handschellen abgefahren.
Würde verurteilt werden und einige Jahre hinter Gittern gehalten. Einige Jahre Knast. Anstaltsmahlzeiten, Knastkumpel mit Vorleben in Unterweltkreisen.
Er würde ganz neue, ungewohnte Erfahrungen dabei machen.
Es war alles gleich. Er war tot.
Die kleine Hüterin der Straßenmöbel
Jetzt, im abendlichen Dämmer, im Schattenspiel der wehenden Gardinen, trieb er wieder durch diese Räume einer dröhnenden Stille.
Er lag auf dem Sofa und lauschte dem mahlenden Strom der Autos, dem knatternden Lärm vorüberbrausender Motorräder; den ächzenden, plärrenden Lauten der Stadt. Doch alles dies war zugleich wie Meilen entfernt. Es war nur die Oberfläche dieses anderen Dröhnens, eines das mit berstenden Lauten aus einer undefinierbaren Tiefe drang.
Das große Motorengetriebe der Welt. Das Hämmern aus dem Maschinenraum.
Die Welt rotierte in mahlender Sinnlosigkeit. Wie häufig in den vergangenen Wochen fühlte er, dass er hier, auf das Sofa gestreckt, erstarren könnte, dass ihn diese dröhnende, klopfende Leere, die ihn umschwemmte, plötzlich versteinern könnte, mumifizieren für immer.
Nichts würde ihn befreien daraus, wenn er nicht selber es tat.
Zugleich war es doch wie ein Spiel: wie der Blick in einen schwindelnden Abgrund, in den er sich probend hinab gleiten ließ.
Es war vergleichbar der Frage, die ihn als Junge manchmal beschäftigt hatte: Wo befindet sich das Ende des Alls? Und ist man an dieses Ende gelangt, was kommt danach? Wenn noch etwas kommt - was wieder kommt hinter dem? Kann etwas ganz ohne Ende sein? Gibt es ein Ende des Endes?
Er musste diese Fragen nicht denken. Er musste den Abgrund nicht anrühren.
Doch immer lag zugleich eine Verlockung darin.
Plötzlich fiel ihm die Party bei Z. ein. Sie musste seit einer Stunde begonnen haben.
Jonas spürte nichts, das ihn hinreißen könnte, noch dorthin aufzubrechen, am wenigsten dieser Zustand. Trotzdem, er ließ sich auf das Spiel der noch offenen freien Entscheidung ein.
Partys - ausgenommen die in den kleinen, bekannten Studentenkreisen - vor allem Massenpartys waren ihm häufig wie alberne Kostümfeiern erschienen, witzlos arrangierte Anstarr-Manöver.
Die Klüngel der umeinander hockenden Leute, oft gelangweilte Säulen, die die verordnete Heiterkeit und Geselligkeit zwischen Rocksound, Cocktails und kaltem Büffet allen sichtbar zu präsentieren versuchten. Die gewagte Garderobe der Partnerinnen, Maxi und Mini, die hoch toupierten, kühn gestylten Frisuren – alles wie Abziehbilder aus Hochglanzmodekatalogen.
Ansonsten dichter, nicht endender Rederauch, in dem jeder das ihm mögliche Quantum abstieß. Jeder beschwor die eigene imaginäre Potenz, brav eingereiht in diesen Tanz der Showgesten, der Kraftrituale wie manchmal auch Mitleidsgesten, immer war es ein Tanz der Verkleidungen, in denen jeder um seine Streicheleinheiten buhlte, im Rausch der fortgeschrittenen Nachtstunden und des gehobenen Alkoholspiegels selber bereit, sie willig auszuteilen.
Das letzte Mal, vor nun einem Jahr, hatte er schließlich diese Stauwelle in sich gespürt: Beinah wäre er plötzlich von Grüppchen zu Grüppchen gegangen und hätte angefangen, über den Abend zu sprechen -: diese Bespiegelungsrituale mit den Konservationsschallplatten, ihren nervtötend immer bekannten Sprungstellen, diesen Gedankenaustausch ohne Gedanken.
Eigentlich, fand er, hätte man ihm zustimmen müssen. Eigentlich hätte es möglich sein müssen, einen plötzlichen Sturm des Protests zu entfachen. Ganz unversehens würde die hier versammelte Mannschaft auf einmal die Gläser abstellen, würde über die Grönlandschrimps-Teller, die Hummerpastete-Teller, die Senfgurkenteller hinweg sich aufgeschreckt und plötzlich klar in die Augen blicken und sagen: So ist es! Verdammt! verdammt! Wir lassen uns das nicht länger gefallen!
Jonas spürte, dass sein Lustbarometer für Partyfreuden sich nur zögerlich von der Stelle bewegte.
Doch etwas rumorte in ihm. Es konturierte sich immer deutlicher, ein ungestillter Hunger.
Seit Monaten, seit Marlies verunglückt im Krankenbett lag, hatte er mit keiner Frau mehr geschlafen.
Es wäre ihm wie ein Verrat erschienen.
Und doch: der Hunger war da, ein unabweisbarer Drang. Er sehnte sich nach der Rundung einer weiblichen Hüfte, den Rundungen weiblicher Brüste, der Berührung zarter und nackter Haut.
Partys hatten auch etwas von einem „Ware feilbietenden“ Basar, jedenfalls für den, der ihn als Single aufsuchte: Ein Teil dieser ausgestellten Ware war man selbst, man hielt Ausschau nach einem irgendwie verlockenden Gegenstück, man feilschte mit den Mitteln des Flirts, eine Überraschung konnte immer dabei sein.
Doch: Diese Sehnsucht, wieder einen weiblichen Körper zu spüren, war stark.
Er würde nicht wählerisch sein.
Nur ein One-night-stand.
Er würde den Flirt ohne Umwege auf diesen einen Satz zusteuern lassen: „Ich habe Lust. Kommst du zu mir nach Haus?“
Nach einer Viertelstunde saß er im Auto.
Man hörte eben einen bekannten Hit durch zwei offene Fenster.
Hinter den wehenden Gardinen schaukelnde und sich beulende Tänzerschatten.
Möglicherweise würde er Gerd wieder antreffen, auch Charlotte und Jochen, wie es ihm ginge, würden sie fragen, was er jetzt tue, immer nachdem der eine geendet hatte der nächste.
Wahrheitsgemäß müsste er antworten: Es geht mir nicht schlecht, nicht mittel, nicht gut.
Es „geht“ mir nicht, so oder so nicht, weil es mich in Wahrheit nicht gibt. Ihr glaubt, mich hier vor euch zu sehen. Doch Jonas, der den ihr kennt, ist aufgelöst, plötzlich verschwunden. Auch wenn ihr meint, mich zu sehen, mich reden zu hören - dass es mich gibt, ist blanke Täuschung, ist Illusion. Jonas, dieser von früher, ist nicht existent.
Allerdings war es zweifelhaft, dass man seinen Betrachtungen soweit folgen würde.
Die Einweihungsparty hatte bereits den schwer schnaufenden Atem eines galoppierenden Nilpferds, das ganze Haus vibrierte unter satt dröhnenden Bassklängen. Im ausgebauten Atelierraum drängten sich Gruppen von Tanzenden, viele ältere Herren darunter mit ihren Gattinnen, Dozenten und Professoren.
In den Räumen darunter hatten sich zahlreiche Gesprächsgrüppchen formiert. Charlotte und Martina, gleichfalls frühere Kommilitoninnen, winkten ihm aus einem in einer Zimmerecke lagernden Menschenknäuel zu, er traf auf ein Dutzend halb- und viertelbekannter Gesichter, die zwei anderen Dutzend waren ihm fremd, ab und zu schob sich ihm wie ein Schneckenfühler eine grüßende Hand zu.
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