Jonas winkte noch einmal zu der Kleinen hinüber, lächelnd, flüchtig bedauernd. Während er sich durch den Regen entfernte, über das spiegelnde Straßenpflasterparkett, hörte er doch weiter diese hüpfende, dann wieder raue Stimme im Ohr.
Jonas wachte auf in dumpfer, gedrückter Stimmung.
Er fühlte Schmerzen im Hals, die Fetzen von unklaren, lästigen Träumen hingen ihm noch im Kopf.
Er sagte sich, dass er in schlechter, gedrückter Stimmung war und beobachtete sich mit Interesse. Wieder schlug Regen gegen die Fenster, wahrscheinlich hatte er ihn im Schlaf schon gehört, und auch dies, so wusste er, trug bei zu seiner Stimmung von Lähmung, von Unlust.
Er schob die Gardinen beiseite und sah eine graue, gestaltlose Wand, kaum noch Himmel zu nennen, er spürte verstärkt ein Würgen im Hals, bis in den Bauch, die Umklammerung metallschwerer Resignation, die den Anblick eines solch widerspruchslosen Regenhimmels offenbar aufsog wie ein willkommenes Futter.
Er sagte sich, dass diese Resignation ihn im Griff hatte und dass es sich dabei um einen schon häufiger erfahrenen Zustand handelte, der keinen Anspruch auf Dauer hatte.
Er raffte sich auf mit dem festen Entschluss, sich an diesem Tag um das Auto zu kümmern.
Er bestieg einen Bus, ließ sich bis nahe an die Waldgegend gondeln.
Irgendwie war es ihm jetzt, als er das Glas von Innen berührte, tief in das Leder der Sitze atmete, als sei ihm das Auto noch einmal geschenkt worden. Doch eigentlich verhielt es sich so mit vielem: Die Dinge kehrten Stück für Stück zu ihm wieder zurück. Manchmal war er beinahe erstaunt, sie einmal besessen zu haben.
Er befestigte die Nummernschilder - sich mehrmals vergewissernd, dass er bei diesem Vorgang unbeobachtet war, nahm dann die Kurve auf die nahe gelegene Waldstraße. Mit antennenähnlich ausgespannten Sinnen schlich er sich mit dem Auto voran, bog ein in die gewohnten Verkehrsstraßen.
Eine große unbekannte Tankstelle mit Werkstatt und Tüv-Angebot.
„Morgen, selbe Uhrzeit, erledigt,“ sagte der Werkstattmeister - gerade als Jonas erklären wollte, dass es ihm auf zwei oder drei Tage mehr nicht ankäme.
Aufs Neue kreisten ihn mit Macht diese Gedanken um Marlies ein.
Es war ihr gemeinsames Reiseauto gewesen. Eigentlich war ihm unmöglich, den Beifahrersitz anders als mit Marlies besetzt zu sehen.
Vier Sommerferienwochen: Ostseeküste. Holsteinische Landschaft.
Plön, Eutin, Travemünde. Er spürte, dass immer noch alles anwesend war: der Winkel der Sonne auf einem Dach, einem Kirchenfenster; die Biegung eines Stammes an einem Rudersteg. Bilder wie eingegossen in Quarz. Alles klang wie ein überklarer Akkord zusammen.
Nach einer Woche waren sie auf eine kleine Gruppe von Sintis gestoßen, zu deren dauerhafter Campingausstattung ein Lagerfeuer gehörte - wie eine Reihe von Musikinstrumenten, Mandolinen, Flöten und Schlagzeugen und weitere unbekannte von Puszta-Herkunft.
Am zweiten Abend trafen drei junge Schweden ein, setzten sich mit ans Feuer, zwei mit Gitarren, sangen von schwedischen Wäldern und Fjorden; dann wieder die Sintis: von Puszta und Steppe.
Jonas hatte vier seiner Studienbücher im Koffer, aber sie hatten letztlich keine Chance gegen die nachtkühlen Brandungsberge, in die sie sich beide Morgen für Morgen stürzten und noch mehrmals während des Tags, gegen Lagerfeuerphilosophien und abendliche Gespenstergeschichten.
Alles war wieder lebendig.
Die Gruppe fitnessbewusster Urlauber, denen sie plötzlich über den Weg liefen, hüpfende Dickerchen, die mit fuchtelnden Armen und zu den Rhythmen eines dudelnden Kassettenrekorders minutenlang ihre Kreise zogen, dann unter dem Kommandoton einer sonnenverbrannten Mittvierzigerin zu turnen begannen. Schließlich hüpften und turnten sie beide mit, ließen, zwischen jedem neuen Kommando, die Standpauke über Bewegung, Gesundheit und wieder Bewegung über sich hinrauschen - die allerdings vor allem den zahlreichen Zuschauern galt, die eine große stumme Verlegenheitsrunde um die Turnenden bildeten, anstatt der Aufforderung zum Mithüpfen nachzukommen.
Marlies war eines Abends plötzlich vom Zeltplatz verschwunden. Er fand sie später etwas abseits am Strand. Sie sagte, sie wolle die Nacht hier im Freien verbringen und den Morgen abwarten. Es war ein mondloser, sternklarer Himmel.
Um fünf kam er wieder zu ihr.
Die Wellen leuchteten schon vom Licht.
Davon träumt sie in muffigen Stunden in ihrem Zimmer, sagte Marlies. Den salzigen Geruch des Meeres zu schmecken, den Meerwind zu fühlen, die Schreie der Möwen zu hören, das unaufhörliche Schlagen der Wellen.
Jetzt ist alles da.
Immer, sagte sie, sind mit dem Geruch der See für sie alle Stunden anwesend, die sie so zu Füßen des Meeres gesessen hat; alle „Meeresschubladen“ in ihrem Gedächtnis herausgezogen. Es ist, wie wenn man ein bekanntes Sternbild wieder entdeckt, merkt, dass es unverändert immer noch da ist.
Für sich selbst ist man dann anwesend in vielen verschiedenen Zeiten.
Er war allein, er spürte es wie seit Tagen nicht mehr.
Der Himmel hockte grau über der bleiernen Fläche des kleinen Parksees, eine rußige Glocke, ab und zu kam eine Windböe auf, warf, Wellen kräuselnd und einen Atem lang Licht brechend, einen Silberteppich über das Wasser.
Ein Strauch fiel ihm auf, er stand etwas abseits von einer Gruppe, ein selbstvergessener, schwankender Stehgeiger, pausierte manchmal, war wieder nur Strauch, mit zitternden Blattfingern um sich die Luft abtastend.
Alles klirrte, vibrierte, unter den leisen Stößen des Winds – oder auch nur durch sich selbst, von einem inneren Drängen bewegt, alles schien gläsern wie diese zitternde Wolkenglocke im Spiegel des Sees.
Marlies - sie strahlte diese Natürlichkeit aus, die jedes Herz sofort „leise mitlächeln ließ“, wie eine langjährige Nachbarin einmal über sie sagte. Ein offenes Gesicht, mit klaren intelligenten Augen - so intensiv und lebendig wie gleichzeitig sanft, eine „leuchtende Sanftheit“. Sie verbreitete dieses innere Lächeln, das ansteckend war. Keine aufgesetzten Gesten, kein Blendfeuer eines künstlichen Charmes.
Ihre erste gemeinsame Stunde war wieder in allen Einzelheiten lebendig:
Der großmaschige Faschingsschal um ihr silbern geschupptes Fischkostüm, in dem er plötzlich mit einem Knopf hängen blieb, so dass er für zwanzig Sekunden nicht weiter konnte in seiner blauschwarzen Anzugsjacke. (Diesem Zeichen seiner eigenen groben Phantasielosigkeit.)
Immerhin, er hätte sie sonst niemals zum Tanz aufgefordert - schien sie doch wie ein Magnet für Dutzende tanzwütige Studenten zu sein.
Kurz darauf setzten sie sich zusammen in eine Nische. Nach zwei Stunden war es ihnen, als hätten sie zwei Jahre ohne Unterbrechung miteinander geredet.
Sie war Pädagogikstudentin, Wahlfächer Englisch und Mathematik.
Beides liebte sie. Ihre Schlussprüfung plante sie für das kommende Jahr. Nichts schien ihr wirkliche Mühe zu machen.
Überall war sie beliebt. Als Schülerin war sie die Hälfte der Schulzeit Klassensprecherin gewesen, die zehnte Klasse konnte sie überspringen, was sie später einige Punkte im Abiturdurchschnitt kostete.
Es war ihr gleichgültig. Sie hatte keinen besonderen Ehrgeiz, arbeitete nie überdurchschnittlich.
Sie hatte keine Geschwister. Vater verdiente gut, Mutter kümmerte sich ausschließlich um ihre Erziehung, Sie war wenig krank gewesen, was sie brauchte, hatte sie nie wirklich entbehren müssen.
Nur eine härtere Probe hatte es auch in ihrem Leben gegeben: Ihre erste große Liebe, ein schon verheirateter Mann, blieb unerreichbar für sie.
Der Platz an einer Grundschule stand ihr bereits sicher in Aussicht, und sie fühlte „das mit gelassener Aufregung auf sich zukommen“.
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