Seine Schwester Andrea sprach anders darüber, schon seit ihrer ersten Stundenpraxis der Referendar-Zeit. Sie sah eine „Kampfarena“, die ihr gelegentlich Albträume bereitete und in der man tägliche Dressurakte von ihr erwartete - immer in Konkurrenz mit Popstars, Fußballidolen, Asterix, Mickymaus, Batman und Supermann, riesige Gedankenposter, die wie Wände die Schülerköpfe umstellten, in die nur das Messer der harten Zensurendrohung eine Öffnung schnitt für die verordneten „Unterrichtseinheiten”, die den Geschmack einer faden, ungeliebten Krankheitskost hatten.
Marlies sah es so nicht. Unter ihrer „Heiterkeitssonne“ gediehen die Dinge, selbst ein Unkrautgarten chaotischer Schüler verlor seinen Schrecken. Freilich brauchte es den unverzichtbaren Zusatz von Strenge und von Geduld, freundlicher Strenge, freundlicher Geduld. Sie hatte reichlich davon.
Fünf Monate lag es jetzt zurück. Es war später Herbst.
Marlies hatte für den Nachmittag ihren Besuch angekündigt. Ein Kommilitone wollte sie mit dem Motorrad vorbeibringen.
Über zwei Stunden verstrichen. Dann rief eine Freundin von Marlies an. Sie sprach mit leiser zögernder Stimme. Eine sehr bittere Mitteilung: Marlies sei schwer gestürzt. Sie nannte das Krankenhaus, wo sie lag.
Bedauerndes Achselzucken der Ärzte. Er könne Marlies nicht sehen. Sie liege im Koma.
Der Kommilitone war auf der herbstlich regennassen Stadtautobahn gefahren. Wie das Polizeiprotokoll vermerkte: mit weit überhöhter Geschwindigkeit. Er selbst lag mit vielen Knochenbrüchen auf der Krankenstation.
Marlies hatte beim Sturz den Helm verloren und war mit ungeschütztem Kopf auf den Asphalt geschlagen.
Sie lag im tiefen Koma. Vier Tage später durfte Jonas zu ihr ans Krankenbett. Ihr Gesicht war fast unversehrt. Sie lag, mit geschlossenen Augen, in völliger Starre. Schläuche an beiden Armen. Sie atmete selbständig. Doch keine Regung auf ihrem Gesicht.
Jonas besuchte sie mehrmals wöchentlich. Saß eine Stunde an ihrem Bett. Hielt ihre Hand. Doch niemals gab es nur eine winzige Reaktion.
Kein Laut. Kein Wimpernzucken.
Wichtige Teile der Großhirnrinde waren irreparabel zerstört.
Es ist nur, was du sonst in Romanen liest, sagte sich Jonas. Wir treiben eine Zeit lang auf dieser Insel des Glücks.
Die zahllosen Bücher und Verse. Sie nennen es - billig oder pathetisch - Himmel und Paradies; und das Verstoßensein daraus Tod oder Hölle.
Genauer kann keiner es sagen.
Paradies: die Sekunde bevor unsere Gesichter sich berührten und ich schwerelos im Raum deiner Augen trieb. Paradies: der Duft deines Haares. Der leise klopfende Puls deiner Finger.
Alles steht in den Büchern.
Das Paradies nicht kennen, ist noch kein Unglück.
Doch es kennen und verstoßen sein, ist das plötzliche Erwachen in den alltäglichen Eiswüsten, in die wir geworfen sind.
Dieses war sein Roman.
Da stand er wieder - der jungen Schnorrer, gegen ein Plakat gelehnt, eine Zigarette in der Hand.
„Also nicht zurückgegangen?”
Der andere kniff die Augen zusammen, stieß eine Rauchwolke gegen ihn ab. Für Sekunden ein bohrender, fast feindlicher Blick.
„Nein, nicht.“
„Und sonst?”
„Alles klar.“ Erneut eine Rauchmauer; eine längere Stille.
„Schon unsern Baum besucht?” fragte Jonas. „Noch Luft in den vier Ballons?”
„Weiß nicht... Schon möglich.“ Der Bartflaum entwickelte sich in Richtung eines wolligen Überzugs, die Schatten von Erschöpfung, Übernächtigung waren unübersehbar, doch unverändert gemischt mit Härte.
„Ich gehe eben mal nachsehen,“ sagte Jonas.
„Gut, gehen wir hin,“ sagte der andere.
Von den Luftballons waren zwei zerplatzt, die beiden anderen baumelten noch wie kleine Gummizitronen an den Zweigen: Doch gab es eine andere Überraschung: Drei schmale Halstücher waren jetzt an den Ästen befestigt, eines wohl doch nur ein Taschentuch und auch die anderen schon etwas ausgebleicht und zerknittert - doch immerhin.
Als er sich auf dem Parkplatz umsah, entdeckte er auf einigen Autodächern alte Blechdosen und Flaschen, in denen welk gewordene Tulpen steckten, manchmal auch nur einfache Grasbüschel und Farne, in einem Fall eine Hyazinthe in hell leuchtendem Blau. Jonas staunte. Irgendwie schien es, sie waren hier nicht mehr allein.
Sie suchten wieder gemeinsam den Stehimbiss auf.
Der andere erzählte, er wohne zurzeit bei einem älteren Mann, ebenfalls „aus der Szene“. Er helfe ihm seinen Dachboden ausbauen, kostenlos, Steine schleppen und mauern, „fünfzig Prozent für das Quartier, fünfzig Prozent reine Freundlichkeit.“
Jonas hatte, eigentlich absichtslos, sein in der Nähe geparktes Auto erwähnt, das nun wieder eine gültige Tüv-Plakette hatte, der andere wollte es sehen, am besten gleich. Im Übrigen: sein Name sei Wulf.
Für einige Minute verschwand er noch einmal, ging eine größere Tasche aus einem der Schließfächer am Bahnhof holen.
Wulf umwanderte den Wagen wie ein Cowboy ein Pferd beim Pferdehandel, Jonas fühlte, dass mit einem betagtem Schlachtross wie diesem bei Wulf nicht zu punkten war, der beschränkte sich schließlich auf den Satz: „Wenn es nur fährt – ist doch alles o.k.“
Er hatte bereits seine eigenen Pläne damit. Ob Jonas ihn eben zu einem Schrottplatz hinfahren könne, fragte Wulf. Er sei auf der Suche nach alten Autoteilen - für das Auto seines Bekannten, das er neu in Schuss bringen sollte. Er hatte in der eben geholten Tasche bereits die notwendigen Autowerkzeuge und Autofarbsprays, gerade im Warenhaus neu beschafft, das ganze Auto sollte eine total neue hellgrüne Schale bekommen.
Jonas nickte. Sie fuhren los.
Jener Wagen gehörte ihnen beiden zusammen, ergänzte jetzt Wulf, er hatte ihn gemeinsam mit seinem Bekannten vorgestern einem Autoverkäufer abgefeilscht - für den Drittelpreis schließlich, den dieser anfangs verlangte. Er beschrieb nicht ohne Schadenfreude ihren Trick: Sie hatten den Mann, während der anderthalb zähen Verhandlungsstunden, mit einer Literflasche Likör „halb in Trance versetzt“.
Sie hielten bei einem größeren Autoschrottplatz, Wulf kletterte über den Maschendrahtzaun, Jonas erhielt nochmals die Anweisung zu hupen, wenn eine Polizeistreife käme oder irgendein Auto stoppte.
Nach einer Viertelstunde kroch Wulf aus den Wrackhalden wieder hervor, reichte einen Autositz über den Zaun, eine Stoßstange, ein Lenkrad, zwei Scheibenwischer, eine mit kleineren Metallteilen gefüllte Plastiktüte. Er schien von der Ausbeute selbst wenig begeistert.
Sie verstauten alles im Auto. Ob er den anderen Wagen selbst fahren wolle, fragte ihn Jonas, und was er täte, wenn er mit seinem Auto in eine Verkehrskontrolle geriete. Darf nicht passieren, gab Wulf zur Antwort. Dann beschrieb er den Weg zur Straße, in der sein Wagen geparkt stand.
Es war eine Einbahnstraße, die auf einen kleinen Stadtpark zulief, Wulf wurde still, schien selbst das Atmen jetzt einzustellen - nirgends ein Auto auf diesem letzten Viertel der Straße, er presste sein Gesicht an das Fensterglas, immer noch schwankend zwischen Ungläubigkeit und aufkochender Wut.
Sie fuhren die Straße wieder zurück, kontrollierten das Straßenschild, fuhren nochmals dem Park zu. Wulf stieg jetzt aus, stampfte auf dem Stück Pflaster herum, wo es noch gestern gestanden hatte, es fehlte nicht viel und er hätte sich wie ein weinendes Kind mit trommelnden Fäusten auf den Boden geworfen.
Ob es versichert gewesen sei, fragte Jonas, als Wulf ins Auto zurück stieg. Wulf schüttelte stumm den Kopf, sie fuhren nun wieder, nach drei Minuten fügte er dumpf, fast tonlos hinzu: Er hätte es dort nicht abstellen dürfen, so ohne Schlüssel, wo jeder sich heimlich und ungesehen darüber hermachen konnte; besser wäre eine belebte Verkehrsstraße gewesen.
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