Jonas begann zu begreifen, eine Bemerkung lag ihm nun auf der Zunge wie: Wahrscheinlich ist es so besser; es hätte ein paar weitere Monate Knast werden können. Schließlich beschränkte er sich auf den Satz: „Wahrscheinlich ist es so besser.“
Wulf wollte wieder ins Zentrum, er begann sich von seinem Zorn, seinem Schmerz zu trennen, „die kleine Schrottwanne!” sagte er jetzt.
Sie durchfuhren erneut die Straße mit ihrem Luftballonbaum, Jonas bremste sanft ab, dachte, die wehenden Tücher betrachtend, über das sonst hier Mögliche nach, die weiteren Chancen, die sicher bisher nicht ausgeschöpft waren.
Plötzlich kam der zündende Einfall: Sie lehnten den Autositz gegen den Stamm, ließen, vom stärksten der Äste, an einer Ballonschnur das Lenkrad baumeln, befestigten daneben die Scheibenwischer, grenzten alles nach vorn mit der Stoßstange ab. Schließlich schrieben sie „Baumauto” in den Sand um die Wurzeln.
Es sah wieder recht hübsch aus, auch bei Wulf war ein kleiner Begeisterungsblitz gesprungen.
Sie setzten sich ins Auto zurück.
In einer Nebenstraße trafen sie auf einen Plakat-bepflasterten Bauzaun: elfmal Sparkassenwerbung, immer war es dieselbe Zins-versprechende Großmutter, mit strengen Gesichtsfalten und erhobenem Zeigefinger, die dringend zum Sparen riet. Jonas hielt an, erinnerte Wulf an die Autospraydosen in seiner Tasche.
Sie besprühten die halbe Wand: Oma einmal mit grünen, einmal mit Orange-Händen; Oma einmal mit grüner, einmal mit Orange-Nase; Oma mit grünem Ohr und Orangeohr, mit grünem Haar und Orangehaar.
Eine ältere Frau kam vorbei, sah ihnen ungläubig, dann kopfschüttelnd zu. Einige weitere Passanten verlangsamten sichtbar die Schritte.
Sie verschwanden wieder im Auto.
Wulf hatte bei einer Straßenlaterne etwas ins Auge gefasst, rief „Halt“ und sprang aus dem Auto. Jonas sah ihn kurz darauf einem Pudel nachlaufen, der ohne sichtbare Begleitung über das Pflaster trabte. Nun aber, den Verfolger bemerkend, setzte er zu einem plötzlichen Spurt an, verschwand fast fliegend um eine Straßenecke. Wulf hastete hinterher.
Jonas bog um die Ecke, verfolgte die Jagd bis an eine schmalere Hofeinfahrt; wartete dort etwa drei Minuten. Schlendernd, mit verkniffenen Mundwinkeln, kam Wulf durch den Torbogen wieder zurück.
Jonas konnte sich keinen Reim darauf machen.
„Alles in Ordnung?”
„Bestens.“
Wulf wollte zum Bahnhof zurück.
Jonas hatte seit einer Woche die Angewohnheit entwickelt, vor dem Einschlafen in Gedanken die Ereignisse des vergangenen Tages zu überfliegen.
Dies entfaltete sich mit der Konsequenz der immer neuen Überraschungseffekte vor allem dann, wenn er mit den Geschehnissen des Abends begann und sich dann zurück in den Mittag und schließlich fort in den Morgen bewegte.
Er merkte, dass er mit dieser Rückschau auf Begebenheiten und Eindrücke stieß, die zunächst eine untergeordnete, kaum sichtbare Rolle gespielt hatten, nun aber, im emotionsloseren Nebeneinander, ein eigenes Leben zu entfalten begannen.
Eine barocke gut erhaltene Häuserfassade. Auf einer Steinmauer ein Schachtelhalm, handspannengroß, der auf kaum einem Teelöffel Erde wuchs. Zwei dicht stehende Bäume, deren zwei untere fest ineinander verschlungene Äste tatsächlich den Eindruck einer Dauerumarmung machten, ein friedvoll dahin wachsendes Liebespaar.
Ein Hund bellte den eignen Kopf in einer spiegelnden Pfütze an, je mehr es in wachsender Aggression geschah, desto aggressiver verhielt sich auch der gegnerische Hund unter ihm. Herrchen musste ihn schließlich energisch zurückpfeifen. Auf einem Balkon sang eine Frau mit schon etwas altersbrüchiger Stimme ein Kinderlied, offenbar vor dem Bett eines Kindes - manchmal mit so kläglich verrutschter Stimme und so falscher Tonlage, dass das Baby eigentlich laut hätte protestieren müssen. Irgendwo auf dem Pflaster krümmte sich eine halbzertretene Schnecke, auf der und um die herum sich bereits ein riesiger Tross von Ameisen versammelt hatte, ein sicheres Speiseangebot für viele Wochen.
Es war gut, all diese Mitteilungen mit Neugier noch einmal vorüberziehen zu lassen, bevor sie - viele vielleicht für immer - versanken.
Am Morgen war dann noch ein Vogelton, der ihn weckte, kurz darauf das Klappern der Müllkästen und der schmetternde Gesang eines Müllfahrers. Jonas sagte sich, dass er Minuten damit verbracht hatte, auf die Stimmen vor seinem Fenster zu lauschen. Es war nur scheinbar das Unerhebliche, mit dem er so seine Zeit verbrachte.
Vor allem etwas wie Neugier hatte ihn hergetrieben, sicher auch Lust.
Aber sie kämpfte schon wieder gegen jene Barriere an - die Unlustbarriere mit ihrer Abstrahlung von Fremdheit, kalter Routine, Glätte.
Eigentlich könnte alles ganz leicht sein: Zunicken, das rasche einverständliche Lächeln, der gemeinsame Weg an die Tür, in die dunkle Geborgenheit ihrer Zimmerhöhle, ins sanfte Willkommen, ins schaukelnde Seidenschiff der gemeinsamen Lust. Körperzwiesprache, der selbstverständliche leise Körpergesang; Schwebelust, ohne Anspruch auf schwindelnden Höhenflug, ohne Gefahr des Sturzes, ohne Anspruch auf Dauer.
Er saß hier im Auto - im kleinen Beobachtungsiglu vor dieser altersbröckligen Toreinfahrt. Eine beugte sich jetzt an sein Fenster, warf einen schwarzwimprigen, Kettchen- und Ohrringe-blinkenden Blick durch die Scheibe. Jonas sah, dass sie dem Alter nach hätte seine Mutter sein können. Und sie hatte fast alles, was er nicht suchte: dieses gepuderte Puppengesicht, dieses Mienenspiel andressierter Dienstfertigkeit, begleitet von jenem zähnebleckenden Lächeln, das plötzlich in Starre verfiel, für Sekundenbruchteile etwas durchschimmern ließ von lauernder Beiß- und Raubtierlust.
Man postierte sich in seiner Nähe, zog schlendernd Schleifen um ihn. Und auf die Entfernung war alles noch immer versprechend und leicht: das Auf und Ab der schaukelnden Hüften und Täschchen, der unkoordinierte Tanz der wehenden, wippenden Röcke und Stelzschritte.
Er würde von Beginn an den Fehler vermeiden, an Gedankenaustausch zu glauben, etwas wie ein Gespräch.
Vor sechs Jahren hatte er zum ersten Mal den Aufbruch in ein solches Viertel unternommen, einfach in der Art eines Experiments.
Die erste, vor diesen sechs Jahren, hatte er damals - in einem lächerlichen Anflug von Anteilnahme und um die Stille beim Weg an die Wohnungstür zu durchbrechen - gefragt: was sie bei Regen hier auf der Straße täten in diesem Job? Er hatte einen fauchenden Wortstoß dafür erhalten: Was ihn das anginge, was sie dann täten!
Kurz darauf hatte er ihr dann gegenübergesessen - vor diesem quadratischen Doppelbett mit der grobseidenen Blümchenbettdecke, der ideenlosen Blümchentapete, der Blümchengardine. Sie hatte ihm allen Rest von Lust aus dem Leib geschlagen mit diesem Satz, aus den Augenhöhlen der ungeduldig kreisenden Blicke, dem Spalt schmaler Lippen lösten sich immer erneute Frostschauer, zusehends wuchs dieser Eisberg in ihrer Mitte.
Sie hatte kein Wechselgeld. Während sie fluchend ihr Portemonnaie durchwühlte, konnte er ohne Erklärungen und Entschuldigung zurück auf die Straße, dies war seine Rettung.
Sicher, einige - so wie diese - konnten es nicht mehr anders: auf diesen täglichen Pflasterstrecken war ihnen jeder Anhauch von Lust verloren gegangen. Nichts mehr von Anrührung, Öffnung, überhaupt Nähe, sie hatten sich völlig verpanzert, verpuppt. Sie gaben ihre Beschädigungen, die kalte Verachtung, mit der die Gesellschaft sie strafte, Rache-nehmend an ihre Kunden weiter. Jeder preisgegebene Zentimeter Fleisch bedeutete hartes Kalkül, der Panzer unter ihrer Nacktheit war doppelt dick.
Die eine hatte er inzwischen genauer ins Auge gefasst: Blond, schmale Stirn, zarte Brauen, eine fast gemütvolle Nase. Fünfundzwanzig vielleicht. Etwas an diesem Gesicht, dem fülligen, geraden Mund hatte ihn anzogen: etwas wie Abwesenheit von Spott.
Читать дальше