Vor allem Gerd war etwas wie eine schrille „Gegenfarbe” zu ihm, ein Gegenakkord, der sich schließlich zur offenen Dauerdissonanz entwickelte; endgültig nachdem ihm Jonas versehentlich einen Pokal, eine silberne Radfahrertrophäe, von einem alterswackligen Schrank gestoßen hatte.
Beide wussten, dass dies den Bruch nicht ausgelöst, nur die Antipathie zementiert hatte. Gerd hegte sie wahrscheinlich vom ersten Moment, noch bevor Jonas selbst einen Anlass dazu hätte geben können.
Nachträglich hatte Gerd lächerliche Gerüchte um Jonas verbreitet wie: Er hätte die Wanne jedes Mal mit einem schmutzigen Rand hinterlassen - die Wanne hatte permanent einen dunklen Rand, auf den keine Bürste und Seife mehr Einfluss hatte; Jonas hätte fremde Briefe geöffnet - es stimmte, einmal hatte sich Jonas bei einer Druckpostsache geirrt; Jonas hätte mit einer alten Flohmarktjacke Nissen in die Wohngemeinschaft geschleppt.
Jonas hatte alle Zusammenstöße von Anfang an strikt vermieden, Gerd suchte sie auf.
Warum man ihn so selten noch sehe, fragte ihn Gerd. Und: Ob er inzwischen einen festen Job habe. - Jonas hatte keine Lust, mit Gerd zu reden.
Sie standen beide am selben Tisch, Gerd aß seine Curry, seine Pommes Frites, Jonas trank einen Orangensaft. Gerd machte noch ein paar Mal den Anlauf, das Gespräch zu beginnen, erzählte von seiner gegenwärtigen etwas schlecht bezahlten Arbeit bei einer Lokalzeitung. Es half nichts. Jonas zeigte keine Reaktion.
Schließlich verstummte auch Gerd. Zwei, drei, vier Minuten vergingen, und Jonas spürte, wie über dem Tisch eine Wolke von Beklemmung emporstieg, sich mit jeder Sekunde verdichtete, anwuchs zur schwarzen Gewitterballung, sich dringend entladen wollte. Er beobachtete diese Beklemmung, wusste, dass Gerd sie teilte, fühlte sie intensiv und genoss es, ihr immer noch stand zu halten.
Er hatte nichts gegen Gerd. Gerd war ihm gleichgültig. Einen Moment überlegte er jetzt, ob dies der Grund sein könnte, dass Gerd Aversionen gegen ihn hegte. Jonas Gleichgültigkeit beleidigte ihn, vielleicht, er interpretierte Hochmut daraus, er wollte geliebt und gewürdigt werden, nicht nur teilnahmslos registriert; er bestand auf Würdigung und Beachtung, auf seine Streicheleinheiten wie alle.
Jonas sah auf, wanderte das sommersprossenbleiche Gesicht ab, den schmalen Mund, die unruhig zuckende Stirn, die goldumrandeten Brillengläser, und er stellte sich vor, er würde ihn streicheln und würdigen. Die Vorstellung fiel ihm nicht leicht, auch hätte es Gerd wahrscheinlich erstaunt, und er hätte entschieden bestritten, dass er so etwas brauchte.
Jonas dachte an den Pokal, die Reihe kurzer Zeitungsausschnitte über kleine Vereinssiege neben Gerds Bett. Es schien ihm jetzt, seine Gedanken träfen seltsam genau ins Schwarze und er sähe dies alles in einer neuen Vollständigkeit.
Schweigen, unverändert. Jonas hatte keine Lust, mit Gerd zu sprechen. Gerd sah ihn jetzt mit fast flatternden Blicken an, knüllte die Pappschalen zusammen, auch die noch zu einem Viertel volle mit den Pommes Frites, leckte sich hastig die Zähne. „Freitag große Einweihungsparty bei Zehringer,” sagte Gerd, „sein Dachatelier ist fertig.“ Er rückte sich unter der wieder zuckenden Stirn mit hageren Fingern die Brille zurecht, die Lippen zusammengepresst, wandte sich zum Gehen.
Jonas winkte ihm plötzlich nach, aus der Entfernung schon einiger Meter, im selben Moment drehte Gerd sich um, die Verwirrung auf seinem Gesicht war komplett. Es schien, er wollte zurückkehren, dann verschwand er doch um die nächste Straßenbiegung.
Gerd, so wusste Jonas, musste dieses Zusammentreffen und die vollständige Ignorierung seiner Person wie das Stück aus einem irrationalen Filmstreifen erscheinen.
Nichts war so gleichgültig wie das.
Jonas – jener von früher – existierte nicht. Und es gab auch keine Notwendigkeit, dies zu erklären.
Mit drei Zeitungen unter dem Arm kehrte Jonas heim.
Er schlug den Lokalteil auf.
Ein ausführlicher Unfallbericht.
Totalschaden an beiden Unfallfahrzeugen. Das eine ein Lieferwagen, der Fahrer konnte nach ambulanter Behandlung aus dem Krankenhaus wieder entlassen werden, der Fahrer des folgenden PKW hatte möglicher Weise ein Schleudertrauma erlitten.
Die übliche Bitte um Zeugen. Der Wagentyp des flüchtigen Fahrers war genannt. Kein Hinweis auf das Autokennzeichen.
Jonas las erneut den bekannten Firmennamen des Lieferwagens, legte sich nochmals dar, welch unterschiedliches Loch die Schadensbehebung in die verschiedenen Kassen riss - seine und die jener Firma.
Blieb der Fahrer des Pkws. Er konnte ihm nur sein Bedauern schicken. Auch wenn er sich als Unfallverursacher gestellt hätte, hätte dies dem Mann in seinem Zustand keine Hilfe gebracht.
Niemand war tot. Niemand war schwerverletzt.
Auch solche Bilder hatten vorübergehend in seinem Kopf gegeistert.
Er öffnete sein Schreibtischfach, besah seine Kontozahlen, er kannte die Summe, doch es war gut, sich ihrer noch einmal zu vergewissern.
Genug um drei bis vier Monate weiter davon zu leben.
Alles danach war ungewiss.
Er stellte sich intensiv diesen Zeitraum vor, empfand ihn als weitläufig für diesen Moment, prall angefüllt mit abertausend Sekunden; jede konnte das Geschenk einer Überraschung bringen.
Am Nachmittag meldete sich plötzlich klar und bestimmt der Gedanke, nach seinem Auto zu schauen.
Er ging in den Keller, löste das Drahtschloss des Fahrrads - es war gewissermaßen der rituelle Moment, in dem er es aus seinem fünfmonatigen Winterschlaf weckte. Während er es die Kellertreppe hinaufschob, entdeckte er Spinnweben zwischen den Radspeichen, dann auch die dazugehörige Spinne. Sie flüchtete auf das Katzenauge, er wollte sie sanft auf die Erde knipsen, doch eine innere Stimme sprach plötzlich dazwischen: Warum sie nicht mit auf die Fahrt nehmen?
Also schwang er sich in den Sattel, das Rad ächzte leise, dann schüttelte es die Winterstarre nach und nach ab, er atmete tief, so plötzlich wieder im Sattel zu sitzen, war ein bisschen wie fliegen – so hatte er das als Junge häufig empfunden.
Nach eineinhalb Stunden bog er in die Waldwege ein, die Luft wurde zunehmend besser, es war ein Vergnügen, die Lungen damit zu füllen. Endlich bemerkte er das schimmernde Blech seines Autos. Es stand auf dem erwarteten Platz zwischen den Tannen - ein Haustier, das ruhig vier Nächte fern am Rand eines Waldes verbracht hatte und nie daran denken würde, sich zu beklagen. Es hatte ihn durch Spanien und durch Griechenland gefahren, sechs Jahre lang hatte es ohne nennenswerten Widerstand seinen Wünschen und Befehlen gehorcht; gemeinsam hatten sie zwei Reifenpannen und einen Achsbruch, mitten auf einer löchrigen Schnellstraße, durchgestanden.
Eine Empfindung überkam ihn für einen Moment, die mit Rührung nicht unzutreffend beschrieben ist.
Er umwanderte sein Fahrzeug zweimal, versprach ihm feierlich, es übermorgen, spätestens in drei Tagen in seine gewohnte Straße zu fahren. Überhaupt wiederholte er seine Entschuldigung, es so nachlässig behandelt und ihm die rechtzeitige Erneuerung der Tüv-Plakette verweigert zu haben - ein unverzeihlicher Leichtsinn.
Als er wieder sein Fahrrad bestieg, fiel ihm auf einmal die Spinne ein, er hatte sich mehrmals bereits nach ihr umgedreht, unbeweglich, zusammengekauert hielt sie sich während der Fahrt auf dem Schutzblech. - Jetzt war sie tatsächlich fort, trabte wahrscheinlich irgendwo über Waldwege, stieß sich an Grashalmen; sicher ein seltsamer Wechsel mit ihrer dunklen Kellerbehausung dies alles, der ihr Innenleben noch über Tage beanspruchen würde.
Eine Kindergruppe kam ihm entgegen, kreischend wie ein Vogelschwarm, die Hälfte mit Stöcken bewaffnet, einige Jungen schlugen zornig und stolz auf alles ein, was neben dem Gehweg an dürrem Unterholz wuchs; in der Mitte zwei dunkelzöpfige Mädchen, die Hand in Hand gehend artig ein Lied vor sich hinlallten, unbeirrt und als sängen sie es für alle.
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