Wie eine schwarze Brandungswelle sah er das erneut auf sich zukommen.
Eine Welle, die anrollte, um ihn ohne jedes Erbarmen zu begraben – ein Begrabensein, das er lebend ertragen musste.
Er hatte die Entscheidung über Leben und Tod aus der Hand gegeben. Jetzt war sie gefallen.
Doch er konnte das Schauspiel in seinem Kopf verändern.
Er konnte sich sagen: Es ist geschehen – ich habe die Flasche mit der tödlichen Dosis gegriffen.
Die Chancen waren absolut gleich.
Also: Ich bin gestorben.
Und alles, was um mich geschieht, trifft nur auf ein schauendes Auge.
Noch einmal zogen die Szenen seines Gestorbenseins, die schon einmal intensiv durchlebten, an ihm vorbei.
Der Tag seiner Aufbahrung.
Die Begräbnisfeier.
Auf eine bestimmte Weise war es geschehen.
Nur dass er jetzt weiter atmete und umherging.
Musste dies ein wesentlicher Unterschied sein?
Er hatte den Tod berührt, ohne Abwehr.
Er hatte den Mut zum „Absprung“ bewiesen. Das wusste er nun.
Sollte es noch einmal unerträglich werden auf die ihm bekannte oder auch eine neue Art - nichts würde ihn festhalten können.
Er sprach es halblaut vor sich hin:
Wo du bist, machst du ein Loch in der Welt. Alles was bleiben darf, ist ein Auge, nur Bilder sammelnd, nur schauend.
Es gibt dich nicht mehr. Es gibt nur noch dies wache schauende Auge.
Plötzlich läutete schrill das Telefon.
Für eine Sekunde schrak er zusammen. Dann war er sogleich ganz gefasst. Ein erster Test.
Er zweifelte nicht, dass es den Autounfall und eine Zeugenaussage betraf. Mehr und mehr genoss er es: diese völlig Gleichgültigkeit zu fühlen bei der Frage, ob er den Hörer abheben sollte oder nicht.
Für den Fall, dass ein Zeuge seine Autonummer notiert hatte, gab es drei Möglichkeiten:
Die, alles zuzugeben.
Die: zu bestreiten, von einem Unfall etwas gemerkt zu haben.
Die: vollends abzuleugnen, zu der besagten Zeit unterwegs gewesen zu sein.
Alle drei Möglichkeiten hatten ihre Risiken, ihre Spannung.
Während er sich alle Personen rasch durch den Kopf ziehen ließ, die sonst um diese Zeit bei ihm anrufen könnten, hörte das Läuten auf.
Doch nach knapp einer halben Minute setzte es, schriller, fordernder, schon wieder ein.
Sein Entschluss stand fest: Er würde den Hörer nicht abnehmen.
Die Entscheidung war unumstößlich. Wieder läutete es sechs- siebenmal, wie vorher zählte er mit, mehr und mehr war es nur noch wie das gleichgültige Zählen der eigenen Atemzüge, er zählte diesmal bis zehn.
Endlich trat Ruhe ein. Er überlegte sich, was er tun würde, wenn die schon ausgemalte Szene Wirklichkeit würde und er nach einem Türklingeln durch den Spion seiner Wohnungstür einen Polizisten erkennen würde.
Er würde nicht öffnen.
Doch wenn es, mit lautem Klopfen, ein zweites Mal geschah? ein drittes Mal?
Er hatte bisher keine Antwort darauf.
Er beschäftigte sich erneut mit der Vase neben dem Fenster, hängte sie wieder fort, tauschte sie gegen ein Bild ein.
Er hängte zwei weitere Bilder um, verrückte das Bücherregal, eine Lampe darauf, jedes Mal schien es, als schüfe er eine vollkommen neue Ecke; als verwandle er ein in der Gewohnheit grau gewordenes Gesicht.
Es war wie die Ahnung von zahllosen, noch unentdeckten Zimmern in diesem Raum, er fragte sich, warum er so wenig bisher davon ausgeschöpft hatte.
Er begann einige Bücher in seinem Regal umzuordnen, schließlich fing er in einem zu blättern an, kurz darauf hockte er auf den Boden, blätterte in einem zweiten Buch, bewegte sich blätternd durch immer neue Stapel von Buchseiten.
Eigentlich war unglaublich, was da ungelesen noch überall in den Fächern stand.
Und sicher war unrecht gewesen, vieles davon als fremd, verstaubt, vergilbt zu empfinden.
Manches war alt, verstaubt. Manches Geschwätz. Manches nur Sammlerarbeit. Doch vieles war wie eine Landschaft.
Er stellte sich plötzlich ein Leben vor, das er einzig damit verbringen würde, durch diese Landschaften anderer Zeiten, anderer Menschen zu reisen. Diese Vorstellung verlockte ihn fast.
Einige Momente spürte er schon wieder etwas wie Gier und Hunger nach Leben.
Plötzlich fiel aus einem der Bücher ein Bild – eine Geburtstagskarte von seiner Schwester Andrea: ein kunstvoll gezeichneter Wal darauf, in dessen Bauch sich ein ängstlich kauernder Mann befand. „Jonas im Wal“ stand auf der Rückseite, Andrea hatte es damals aus einem Buch kopiert.
Beide kannten sie die Geschichte aus dem Konfirmationsunterricht, und, anders als dieser im finsteren Walbauch gefangene Mann, kannten sie das versöhnliche Ende: An einer unbekannten Küste würde dieser Wal den Mann unversehrt wieder ausspucken.
Nein, dieser Wal war das vermeintliche Todesschiff nicht.
Immer noch einmal begriff er: Der Weg endete an dieser Stelle nicht.
Vielleicht begann er eben ganz neu.
Wieder streckte er sich auf dem Sofa aus, trieb in diesen Nachwehen von Erschöpfung, Benommenheit, die jetzt doch zugleich eine sanfte Geborgenheit boten.
Er spürte, dass dieser Augenblick zählte. Zählte wie wohl noch kein anderer in seinem Leben.
Er klopfte an diese innere Tür, die diesen leichten Wechsel versprach:
Von nun an spielst du dein Leben.
Du schaust dir zu.
Nichts bleibt als das wache schauende Auge.
Er glitt durch die Nacht. In einem seltsamen Zwischenzustand, der kein gewöhnliches Schlafen, kein übliches Wachen war.
Manchmal wie angerührt von einem sonderbar hellen Bewusstseinslicht.
Den ganzen folgenden Tag verbrachte er so auf dem Sofa, regungslos, unverändert in diesem Zustand zwischen Wachen und Traum.
So auch den wieder nächstfolgenden Tag.
Nur hin und wieder ein Weg ins Bad oder an den Kühlschrank, um etwas zu trinken zu holen.
Für kurze Zeit in Schlaf fallend und sich plötzlich erneut halb aufrichtend, war es doch weiterhin, als bewege er sich in einem Traum. Alles schien auf eine ungewöhnliche Art transparent.
Er spürte, gegenwärtig und fern, den Atem der Stadt, vibrierend von zahllosen Stimmen.
Er meinte, den Atem der Erde zu fühlen, wie angeschlossen an einen größeren Puls.
Vielleicht träumte er. Vielleicht war es eine gesteigerte Form des Wachens.
Immer noch einmal diese geheimnisvolle Helle - gespeist von diesem aufwärts steigenden Strom, ein lebendiges schmerzloses Feuer.
Momentweise war alles Klarheit. Klang. Ordnung. Geborgenheit.
Das Bild des Wals schob sich wieder in seinen Kopf. Er hieß es willkommen.
Er trieb hier im Leib des Wals, eine tanzende Meereswiege.
Er fühlte, von dieser anderen Helle erfüllt, den kreisenden leichten Flug seiner Gedanken.
Hielt er Kurs auf die Küste?
Welche Küste würde dies sein?
Acht Jahre waren seit jenem Spätherbst vergangen. Plötzlich veranlasste mich etwas, mich nochmals intensiv mit den Ereignissen dieser Zeit zu befassen.
Jener Spätherbst: Jonas war zu einer Reise ins Tessin aufgebrochen und nicht mehr davon zurückgekehrt.
Die Spuren verliefen sich in einem Berghotel am Fuß des Basodino, dreißig Kilometer von Lucarno entfernt. Jonas hatte das Hotel in Richtung des Dreitausenders verlassen, an einem strahlend klaren Vormittag. Es gab keinen Wetterumschlag an diesem Tag, auch an den folgenden nicht.
Suchmannschaften durchkämmten zwei Wochen darauf das Bergmassiv. Ohne Ergebnis – bis auf den Fund von Rucksack, Reiseproviant und Feldflasche, alles ordentlich in einer kleineren Berggrotte abgestellt.
Die Tage zuvor hatte er bei seiner Schwester Andrea verbracht, mir teilte er in wenigen Zeilen mit, dass er „auf einen Trip“ in die Berge sei – für „einen Atemzug Höhenrausch“. Vielleicht bleibe er ein paar Tage, vielleicht auch länger.
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