Er hatte die Eltern von Marlies auf der Parkbank neben dem Krankenhaus getroffen.
Auch sie kamen eben von der Komastation.
Ihre Gesichter waren müde und grau.
Nein, die Ärzte machten ihnen keine Hoffnungen mehr. Fünf Monate lag sie nun in völliger Starre, die Augen halb geöffnet und ins Leere gerichtet, angeschlossen an Schläuche, seit vier Wochen auch an eine Beatmungsmaschine.
Zuviel Gehirnsubstanz war abgestorben.
Marlies würde nie wieder sprechen, nie wieder lachen können.
Sie lag im Sarg ihres Krankenbettes begraben.
Die Mutter war bisher strikt dagegen gewesen, die Geräte abzustellen. Doch jetzt kamen ihre Einwände nur noch zögernd und schwach.
Jonas suchte Worte des Trostes.
Worte, die auch ihn selbst hätten trösten können.
Es gab sie nicht.
Marlies würde nie wieder in sein Leben zurückkehren.
Die Verbrennung seiner Manuskripte – ein Befreiungsschlag, ein Todesstoß gegen all seine Ambitionen der letzten Jahre. Er hatte den Theaterautor, der seit zwei Jahren um die Gunst der Theater und Theaterverlage buhlte, zu Grabe getragen.
Eines der Manuskripte, ein surrealistisches mehrstündiges Theaterstück, an dem er seit Jahren feilte, hatte zum fünfzehnten Mal mit einer Ablehnung im Briefkasten gelegen.
Am nächsten Morgen bereute er, so schnell nach der Sektflasche gegriffen zu haben, die ungeöffnet im Schrank stand. Er trank selten, doch plötzlich lachte diese Flasche ihn an, er nahm Schluck für Schluck, und während er erneut das Manuskript durchblätterte, verstärkte sich in seinem Kopf der Chor der Stimmen, die erbarmungslos Schwächen und Mängel auflisteten. „Verwirrendes Handlungsgeflecht.“ „Zu skurril.“ „Keine Personen aus Fleisch und Blut.“ „Kunstsprache. Papierene Dialoge.“ So jedenfalls stand es in einigen der Ablehnungszeilen – wenn man sich überhaupt die Mühe machte, das Gelesene zu kommentieren und sich nicht auf eine Drei-Zeilen-Ablehnung beschränkte.
Er hatte nach Abschluss des Germanistikstudiums, abgesichert durch eine größere Geldreserve der Eltern, sich selbst zwei Jahre Zeit gegeben, ein gut durch geschliffenes Theaterstück vorzulegen, das ihm die Tür auf eine Bühne öffnen könnte. Theaterautor zu sein: sein seit Jahren gehegter Traum.
Der Alkohol sammelte sich in seinem Blut, er meinte es nun selbst zu sehen: papierene Dialoge, unfertige Handlungsstränge bei einer zugleich ausufernden Handlung, ein sich letztlich verzettelnder blass bleibender Plot, eine gekünstelte Sprache, die - in der Flucht vor dem nur Banalen - die Balance doch verloren hatte und artifiziell wurde.
Er hätte das zurückgeschickte Manuskript und das im Schrank liegende zweite einfach in den Müll werfen können. Doch eine innere Stimme verlangte etwas wie einen feierlichen Akt, so griff er ein altes Küchenblech und ging damit hinaus auf den Balkon, dort ließ er die Flamme des einen brennenden Blattes immer auf ein nächstes überspringen, mehr als drei Stunden lang, bis die Blätter beider Manuskripte als glühende Aschehäufchen über das Blech verteilt lagen.
Dann galt es noch, auch alle Spuren im Computer zu löschen. Erst schluckte der Computerpapierkorb die beiden Stücke, dann zerfiel es auch in diesem Papierkorb mit leisem Klirren, unwiderruflich.
Ein Akt der Befreiung, kompromisslos und radikal. Er fühlte sich stark und gut dabei.
Der Schmerz kam erst, als er mitten in der Nacht auf seiner Bettdecke erwachte und sich in seinem Kopf wieder die Konturen eines klaren Denkens einstellten. Was hatte er da getan? – Er lief an seinen Computer, öffnete ihn hastig und in der Hoffnung, irgendein anderer Speicherplatz hätte Reste seiner Stücke noch festgehalten – oder er hätte diesen Akt radikaler Zerstörung vielleicht nur geträumt.
Die beiden Stücke waren fort - auch jede winzige Spur war getilgt.
Auf dem Balkon stand noch das Blech mit den schwarzen Ascheresten.
Am nächsten Morgen trank er zu einem mageren Frühstück das noch verbliebene letzte Viertel der Flasche.
Sein Auto hatte seit drei Wochen still vor der Haustür geparkt, der erneute Tüv war überfällig – doch er schob es immer wieder hinaus; ihm war die lange Mängelliste bewusst, mit der man ihn in der Werkstatt zuvor konfrontieren würde und die einen Teil der Geldreserven nochmals schmerzlich aufschmelzen würde.
Er trieb in dieser Wolke von Rausch, von Trauer, von Verzweiflung und Wahn. Es war ein heller Frühlingsmorgen und er wollte hinaus – weit fort, einfach „sich selbst entfliehen“. Die Stimme der Vernunft hatte dagegen keine Chance, sie wisperte noch, doch nur zaghaft und schwach.
Hinaus an den Rand der Stadt und weiter. Sich auf eine Wiese inmitten von Tannen werfen. Den Blick in den Himmel bohren. Bis in den Abend. Bis in die Nacht.
Nach dem scheppernden Zusammenprall der beiden Autos in seinem Rücken wandte er den Blick nicht um, dieser blieb starr auf die Fahrbahn gerichtet, er erhöhte die Geschwindigkeit noch, getrieben von blankem Schrecken, unverändert in dieser Wolke von Rausch.
Eine knappe Stunde in tranceähnlicher Fahrt. Dann hatte er den Wald erreicht.
Er fuhr in die Waldwege ein; ins Dickicht dunkler Tannen.
Er entfernte die Nummernschilder.
Noch bis zum Einbruch der Dunkelheit irrte er über die Waldwege.
Dann schlug er zu Fuß den Rückweg ein.
Weit nach Mittagnacht stieg er die Treppen zu seiner Wohnung hinauf.
Auf dem Schreibtisch blinkte das grüne Lämpchen des Anrufbeantworters.
Zwei Anrufe.
Er ließ nur einen flüchtigen Blick darüber schweifen.
Ein Unfallzeuge.
Die Polizei.
Es bestand kein Zweifel daran.
Er fiel zitternd vor Erschöpfung aufs Bett.
Der Plan hatte in seinem Kopf längst feste Konturen angenommen.
Im Moment des Erwachens war er sofort wieder gegenwärtig.
Er ging in den Keller. Er öffnete das kleine Fach der alten Kommode, in der sich ein fremder Kasten mit Arzneien befand und darunter das, was zur Ausführung dieses Plans unerlässlich war: die Barbiturate. Die krebskranke Vormieterin hatte sie dort verwahrt, dann war sie nach einem kurzen Aufenthalt im Hospiz doch von selbst verstorben. Jonas hatte einen Teil ihrer alten Möbelstücke übernommen, auch jene alte kleine Kommode.
Die Entdeckung hatte ihn vor drei Jahren wenig berührt. Nun erschien sie ihm, wie schon gelegentlich während der letzten Tage, wie ein freundliches Geschenk.
Das Angebot eines völlig schmerzfreien Todes.
Es war ihm wichtig, jede willkürliche Einflussnahme auszuschließen, so verpackte er beide Flaschen in einem Beutel und verschob sie mehrmals im Kreis. Dann griff er blind hinein.
Entfernte den Verschluss und trank.
Den blinkenden Anrufbeantworter löschte er, er zog einfach den Stecker.
Über eine Stunde war schließlich vergangen, und er musste sich sagen, dass er wie immer klar bei Bewusstsein war.
Also: er lebte.
Ein letztes Mal betastete er zögernd Arme und Beine, stand auf, ging wieder im Zimmer umher.
Noch einmal spürte er jene andere Welle, die schwarz nach ihm griff und ihm sagte, dass der Weg in die rasche Erlösung verschlossen blieb.
Stattdessen:
Erneut jene Tage, Wochen, Monate des verzehrenden inneren Hohlseins; ohne je wieder ein auch nur winziges Lächeln von Marlies, das über drei Jahre sein Leben verzaubert hatte.
Ohne das ihn doch häufig erwärmende innere Feuer, wenn er sich über seine Manuskriptseiten beugte und er in manchen Augenblicken so sicher meinte, die von ihm geschaffenen Gestalten sprechen zu hören.
In jeder Stunde dieses Tages in der Erwartung, dass ein Uniformierter vor seiner Tür stehen würde, einen Zettel in der Hand, auf der eine zuverlässige Zeugenaussage und die Nummer seines Wagens notiert waren.
Fahrerflucht. Eine Fahrt ohne Versicherungsschutz. Ein Unfallschaden, den er auch über viele Jahre hin nie würde begleichen können.
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