Diese so andere innere Existenz, diese „Gewichtlosigkeit“ vor allem ist es, die mich noch einmal in Bann zog und deren Hintergründe ich inzwischen anders begreifen kann – in allen hellen und dunklen Farben. Und die doch weiter einen Kern von Geheimnis umschließt.
Mit den zahlreichen Ergänzungen durch Andrea ist jener schmale Hefter, den ich erwähnte, zu einer umfangreichen Erzählung gewachsen. Diese musste sich in manchen Details darüber hinaus verselbständigen. Doch immer folgt sie dem Ziel, einem Freund und seiner reichen Gedankenwelt wie seiner ganz eigenen Sprache gerecht zu werden.
Er fiel nun doch in einen gewöhnlichen Schlaf.
Kein Traum, der ihm erinnerbar war, als er zurück in den Tag tauchte.
Er schob die Gardinen beiseite. Es folgte der morgendlich gewohnte Blick durch sein Zimmer.
Er sah aus dem Fenster - auf eine Gruppe von Zirruswolken, die wie Haarflaum auf einem entfernten Dachgiebel lag; sah auf dem Rasen zwei streitenden Amseln zu, die auf denselben Regenwurm einpickten. Der lag apathisch, ließ reglos die schließlich Frieden schaffenden Aufstückelung geschehen.
Er ging von Möbel- zu Möbelstück, horchte auf das Knarren der Dielen unter den Füßen, an den immer bekannten Stellen. Vier Bücher lagen aufgeschlagen noch auf der Erde.
Zunächst allerdings sollte er sich, wie er fand, um seinen hörbar rumorenden Magen kümmern, seit vorgestern Mittag hatte er nichts Essbares mehr angerührt.
Er setzte den Kaffeetopf auf den Herd, stellte Brot und Marmelade zurecht, Käse und Butter.
Ein halb vertrockneter Blumentopf neben dem Kühlschrank hatte dringend eine Wässerung nötig, auch um das Blumenfenster im Wohnzimmer hatte er sich eine längere Zeit nicht gekümmert. Jetzt tat er es, mit Sorgfalt - immerhin: Hunger- und Durstempfindungen waren ihm eben wie selten vertraut. Schließlich setzte er sich.
Alles war wie gewohnt. Alles war anders.
Beim Essen kam es ihm momentweise vor, als ob er sich füttere; es war, als durchbräche er den üblichen Ablauf immer wieder mit Fragen wie: Willst du dies oder das -? Willst du es so oder so -?
Diese ganze Mahlzeit, die unerwartet mit einem wässrigen Schnurren aus der Tiefe des Magens endete, reizte ihn plötzlich zum Lachen. Es war keine neue Erkenntnis, doch selten hatte er es mit gleichem Witz sehen können: in welchem seltsamen Tier er da hauste, dieses kauende, speichelnde, verdauende Etwas, das in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen nach Futter schrie, gestreichelt sein wollte, gewaschen und spazieren geführt.
Er konnte sich damit identifizieren - in der Art einer Theaterrolle, die er mit Humor und vielleicht auch Hingebung spielte, wechselnd mit Besonnenheit und Distanz. Doch vor allem Humor. Er war dieses Tier nicht, bestenfalls „ritt“ er auf ihm - oder „in ihm“, teilte die Stallluft mit ihm
Freilich, er hätte auch jetzt nicht bestritten, dass sie eng miteinander verkoppelt waren.
Wieder griff er nach seinen Büchern, die unverändert zu kleinen Stapeln getürmt vor dem Regal lagen.
Jonas hörte sich Atem holen, als ginge es um einen Sprung in die Tiefe, in die er lustvoll für einige Stunden zu tauchen plante.
Aufs Neue spürte er es: die Aussicht auf diese noch unbekannten Gedankenstrecken, möglichen inneren Trimm-Dich-Pfade war tatsächlich verlockend, eigentlich erschien ein Leben zu kurz angesichts dieses Angebots.
Wieder ein Telefonklingeln, das ihn aufschreckte. Etwa vier Stunden, zeigte der Blick auf die Uhr, waren seit Beginn des Lesens vergangen. Zeit wieder aufzutauchen.
Nur etwa fünfmal klingelte es diesmal; er hatte sich soeben erneut auf ein längeres Zählen eingestellt.
Er ging ins Bad sich rasieren, wechselte Hemd und Jacke, kämmte sich, rückte den Kragen zurecht.
Ein Mensch mit passablem Outfit und das gleichfalls passable Gesicht eines jungen Mannes blickte aus dem Spiegel zurück. Nein, er hatte keinen Grund, sich über dieses Gesicht zu beklagen.
Es zog ihn hinaus an die frische Luft.
Er holte die Einkaufstasche vom Haken. Dann stellte er fest, es gab noch genügend Brot im Fach, auch der leise surrende Bauch des Kühlschranks war noch für Tage ausreichend gefüllt.
Aber eine Zeitung vom Kiosk zu holen, wäre für diese Mittagszeit eine sinnvolle Aufgabe. Überhaupt, es gab diese Sache, die ihn betraf und in der er sich besser doch kundig machte.
Erst beim dritten Kiosk, eine halbe Stunde Fußweg von seiner Straße, wurde er fündig: In einem Regal lag noch eine Zeitung des gestrigen, auch des vorgestrigen Tags. Er blätterte auf den Lokalteil zu.
„Fahrerflucht“. Die Kapitelüberschrift sprang ihm ohne Schonung ins Auge, es folgte das Wort „Totalschaden“. Durch seine Finger lief momentweise eine prickelnde Hast, die Augen saugten gierig den folgenden Satz auf. Mitten im nächsten brach er ab und schlug die Zeitung sanft wieder zu.
Ein Schäferhund trottete heran, hielt an und jaulte nach oben. Die Verkäuferin, eine Frau mit dem watschelnden Gang einer übergewichtigen Ente, beugte sich vor und warf einen Drops aufs Pflaster. Der Schäferhund leckte ihn auf, zerkaute ihn knirschend.
„Er kommt jeden Tag hier vorbei,“ sagte ein Mann, der sich eben zwei Totoscheine herausreichen ließ. „Er trinkt auch Bier aus der Flasche, und Herrchen putzt ihm täglich die Zähne, wegen der Drops. Er tut alles, was Herrchen tut.
Die Kioskfrau warf noch zwei weitere Drops aufs Pflaster, Herrchen war eingetroffen und bestellte sein Bier. Er leerte die Flasche zu etwa zwei Dritteln, dann führte er es den Umstehenden vor: schob sie dem Hund ins Maul, der daran sog wie ein Welpe am Euter.
Der Mann mit den Totoscheinen fuchtelte mit dem Kugelschreiber über den vorgedruckten Kästchen, sichtbar ratlos für einen Moment, er wandte sich kurz entschlossen wieder an Jonas und wünschte einen Tipp zum Ausgang eines Spiels zweier Mannschaften, die am Wochenende gegeneinander antreten würden.
„Unentschieden”, sagte Jonas. Der Mann hob misstrauisch die Brauen, vor allem wegen der unvermutet raschen Reaktion, dann aber machte er folgsam sein Kreuzchen. Schließlich wünschte er noch zwei weitere Tipps und Jonas verblüffte ihn wieder: drei zu eins Tore, sagte Jonas beim nächsten weiteren Spiel, vier zu null beim dritten.
Der Mann protestierte heftig, auf diesen letzten Tipp reagierte er ärgerlich.
Jonas hatte von beiden Mannschaften nie mehr als die Namen gehört, immerhin war ihm bekannt, dass sie mit Fußball zu tun hatten. Er erklärte jetzt, dass es im Fußball immer Überraschungen gebe, und dass das Überraschende deshalb meist das Wahrscheinliche sei.
Der Mann dachte nach und nickte. Er fand jetzt auch selber eine Erklärung für den gegebenen Tipp - der krankheitsbedingte Ausfall des Liberos, während Jonas wieder kennerisch die Mundwinkel verzog.
Im Übrigen hatte er, der Mann, selber als „junger Bursche“, also im Alter von Jonas, Fußball gespielt. Dabei hatte er „Überraschungen“ am laufenden Meter erlebt. Er hatte „Hunderte solcher Geschichten im Koffer“. Er begann, einige davon auszupacken, sich immer wieder mit einem Schrei des Entsetzens oder des Überschwangs, je nach eigener Mannschaftszugehörigkeit, unterbrechend. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm dann, dass er es „höllisch eilig“ hatte, mit geröteter schwitzender Nase ging er davon.
Unerwartet erschien Gerd am Kiosk, ein früherer Kommilitone.
Er hob grüßend die Hand, ließ ein „Hallo“ hören, bestellte dann eine Currywurst, fragte Jonas, was er so mache zur Zeit, auch Charlotte und Achim hätten nach ihm gefragt.
Jonas hatte keine Lust, mit Gerd zu sprechen.
Mit Gerd und zwei andern Bekannten und Freunden hatte er während des ersten Studienjahrs eine Fünf-Zimmer-Wohnung geteilt - ein Experiment, von dem er nachträglich nicht mehr verstand, wie er ihm hatte zustimmen können.
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