Ihm gegenüber nahm der Engel mit dem Gesicht von Marie von Buch Platz. Er stellte sich mit „Mimi, Gräfin von Schleinitz und Puntirjan“ vor. Sie seien Boten eines himmlischen Sternkundlers, sagte er. Der heiße Peter Puntirjan, nach dem Heiligen Petrus. Der Bote fuhr fort, er habe eine Botschaft an ihn.
Friedrich Köller schluckte. Er sah die Engelgestalt mit großen Augen an. Er war unfähig zu sprechen. Ein Zwitschern drang in seine Ohren, wie von den Vögeln aus den Wäldern der Lausitz. Er verstand es nicht, aber sein Kopf schien es ihm in seine Sprache zu übersetzen. Friedrich Herz, Carl Säuberlich und er seien auserwählt worden, Mitglieder eines „Familienschwarmes“ zu sein, in dem einige Generationen später ein Nachkomme Besuch aus dem Himmel empfangen werde. Der Besuch werde ihm „ein reizvolles Ding“ bringen „aus einer anderen Welt“. Es werde ihm vom Sternenhimmel her geschickt und von einem Händler überbracht, in die Hände seines Enkelkindes. Das Kind werde dann erneut Besuch bekommen, dieses Mal persönlich, um das reizvolle Ding wieder heimzuholen in die Welt der Sterne.
Plötzlich schien die Erde zu rumoren. Ein Erdbeben wie vor einem Vulkanausbruch. Friedrich erschrak. Er öffnete seine müden Augen. Seine Gattin stand vor ihm. Sie rüttelte heftig an der Chaise longue, auf der er eingeschlafen war.
„Friedrich, du bist ja kaum wach zu kriegen! Komm zu Bett!“, sagte sie ungeduldig.
„Ja, ich komm!“, antwortete Friedrich im Halbschlaf und scheuchte die Traumbilder und –engel fort.
„Nun erzähl doch! Dein Tag muss ja wirklich aufregend gewesen sein!“, drängte seine Frau. Sie platzte fast vor Neugier.
„Ja, stell dir vor, was Carl August und ich hinbekommen haben!“, begann Friedrich seinen Bericht von der Begegnung mit der Kronprinzessin und ihrer Freundin „Mimi“ von Buch.
Als er seinen Bericht an die Ehefrau beendet hatte, beschloss er, das Ereignis auch kurz zu notieren und es als Nachtrag in die vor drei Jahren verfasste Familienchronik zu übernehmen, um es späteren Generationen weitergeben zu können. Und so kam es, dass die „Chronik der Köller‘sch-Säuberlich‘schen Familie“ eines Tages einen Zusatz erhielt über die Kamenzer Prophezeiung der Hofdame „Mimi“ von Buch – die Prophezeiung eines „reizvollen Dinges aus einer anderen Welt“. Eines Tages sollte es in den Besitz eines der Enkelkinder gelangen, hieß es, aus einer anderen Welt. Vielleicht könnte es ja sogar wie ein Stern vom Himmel fallen , dachte Friedrich Köller und malte sich das Ereignis in den schönsten Farben aus. Mehr wusste er nicht. Doch denen, die nach ihm kamen, sollte es den Tod bringen – und ein neues Zeitalter.
Kapitel 3: Das Licht am Südseehimmel
Ich blickte auf. War es damals wirklich so? Habe ich mir die märchenhafte Begegnung mit der Prinzessin gerade so vorgestellt? Oder war ich eingeschlafen und hatte sie geträumt? Ich wunderte mich, denn diese Sprache – das „Sächsische“ – kannte ich nicht. Ich hatte mir die Begegnung mit der Prinzessin wohl nur ausgemalt – und ihre Verheißung von einem Ding aus einer anderen Welt. Ich musste an Opa denken, der im Zeppelin geflogen war und auch in alten Flugzeugen. Er schwebte über den Fronten und sah unten auf dem Boden die Kämpfe – weit unten, wie in einer anderen Welt. Und ich dachte an Omas Bruder und seine weite Schiffsreise in die Neue Welt, nach Argentinien. An fremde Länder und ihre Bewohner, völlig fremde Welten.
Dann schlief ich ein. Doch mein Gehirn arbeitete weiter (Es ist ja manchmal so, dass etwas verborgen geschieht. Es scheint inaktiv zu sein, und ohne dass wir es wahrnehmen, geschieht dann doch etwas – ohne uns bewusst war, dass da etwas kommen wird). Und plötzlich war ich auf einem Schiff statt im Zeppelin, und weitere acht Jahrzehnte zurück in der Vergangenheit – in einer Zeit, die mehrere Jahre vor der Geburt von Johann Gottlob Säuberlich dem Jüngeren lag, diesem Rittergutspächter zu Skada. Das Schiff, auf dem ich stand, war in der Südsee. Ich war wie ein unsichtbarer Geist, der eine Mannschaft von Entdeckern fremder Welten begleitete.
Joseph Banks stand in diesem Moment an Deck und genoss die milde, warme Abendluft der Südsee. Er war ein angesehener Mann, hoch gelehrt. Und er hatte ein Vermögen von zehntausend Pfund bezahlt, um an der Expedition auf der Endeavour teilnehmen zu können. Es war Abenddämmerung, der 11. Juni 1770. Banks blickte in Richtung Sonnenuntergang. Er nahm Sturmtaucher und Albatrosse wahr, und neue, unbekannte Arten von Seevögeln.
„Hoffentlich geht es bald wieder nach Süden!“, dachte Banks. „Bestimmt gibt es noch so viele neue Arten von Lebewesen zu entdecken, wenn wir den Südkontinent erst einmal erforscht haben.“.
Ein Poltern riss ihn wurde aus seinen Träumen. Hermann Diedrich, sein junger Sekretär, kam an Deck. Er wurde von Daniel Solander begleitet, dem schwedischen Botaniker, der Charles Green im Schlepptau hatte. Die gelehrten Herren hatten beschlossen, ihre wissenschaftliche Konversation an Deck der HMS Endeavour fortzusetzen. Ihre Diskussionen lenkten Banks von seinen Träumen ab.
„Ja, ich sage Ihnen, es stimmt: die Sonne muss drei Mal so weit entfernt sein von uns wie die Venus!“, rief Green erregt. Green war als Astronom an Bord. Er hatte die Messung auf Tahiti vorgenommen, letztes Jahr am 3. Juni.
Banks schwieg beeindruckt. Er dachte darüber nach, ob es auf der Venus wohl auch unbekannte Arten von Tieren und Pflanzen geben könnte. Er wollte Green und Solander nach deren Meinung dazu befragen, doch dann dachte er wieder an seine Aufgabe. Er sollte zunächst einmal die auf dieser Expedition neu entdeckten Tier- und Pflanzenarten zu beschreiben, nicht spekulieren. Gerade wollte er Diedrich ein paar Gedanken zur Niederschrift diktieren, da unterbrach ihn Solander.
„Hoffentlich hat der Smutje heute was ordentliches gekocht!“, brummte der Schwede. Er hatte einen Mordshunger bekommen, und er war froh, dass sie nicht nur Seemanns-Rationen bekamen. Täglich nur ein Pfund Schiffszwieback, Pökelfleisch, ein Schlag Erbsenbrei und eine Gallone Bier, das wäre absolut nicht sein Fall gewesen.
„Gehen wir!“, schlug Green vor.
„Ja!“, antwortete Solander erleichtert. Er blickte zu Banks rüber.
„Ja, gehen sie nur!“, knurrte dieser. „Ich bleibe noch kurz an Deck!“
Solander, Green und Diedrich wandten sich von der Reling ab und wollten unter Deck gehen. Banks war froh, wieder seine Ruhe zu haben. Er blickte über die Reling zu den Seeleuten herüber. Der Mann am Senkblei fischte Seegras vom Senkblei. Ein treibendes Holzstück zeigte ihm, dass Land in der Nähe war. Die Männer fluchten, dass sie die Meerestiefe schon wieder ausloten mussten – Kapitän Cook war wie besessen hinter den Messwerten her. Zwei Jahre schon waren sie auf See. Sie wollten endlich wieder heim, oder zumindest zurück nach Tahiti. Aber Cook befahl immer wieder, nordwärts abzusegeln und die Ostküste Neuhollands zu vermessen. Er wollte seinen kartographischen Beweis für die Existenz des Südkontinents, unbedingt. Die Crew jedoch murrte immer lauter.
Banks hörte, wie die Seeleute über ihre Essensrationen maulten, immer nur Schiffszwieback, Pökelfleisch und Bier. Sie widerten ihn an. Er musste daran denken, wie Cook einige von ihnen hatte auspeitschen lassen, weil sie die Tahitianerinnen vergewaltigt hatten, doch sie taten es immer wieder. Bei jedem Landgang. Banks hatte einen von ihnen gefragt, warum sie das tun. So lange es dafür vom Kapitän immer wieder die gleiche Strafe gab, hatte er ihm geantwortet, fanden sie das nur fair. „Pack!“, schoss es Banks durch den Kopf. Ihm fiel der Sekretär ein, dem Einige aus der Crew im Streit beide Ohren abgeschnitten hatten. Cook hatte auch diese Tat verurteilt, einige Tage bevor sie dann tatsächlich „Neuholland“ entdeckt hatten.
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