Erich v. Gaens - Hockenstett – Eine Erzählung

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Die offizielle Geschichte derer von Hockenstett beginnt am 15. August 1313 im Dorfgerichtssaal zu Abenberg, als der ganz alte Lorenc – also damals war er noch nicht so alt, und es sollten ihm noch weitere Lorence folgen – als erster Hockenstett urkundlich erwähnt wurde. Eigentlich amtskundlich, jedoch immerhin schriftlich. Er wurde von Graf Lynhartt von Abenberg wegen Hühnerdiebstahls zu zwei Monaten Frondienst sowie zur Herausgabe seines als überaus köstlich geltenden Rezeptes für ein Hühnchen in feiner Weinsauce verknackt. So bitter die Geschichte der Familie Hockenstett beginnt, so unterhaltsam sollte sie noch werden. Begeben Sie sich auf eine Reise durch die Zeiten, durch die verschiedensten Gesellschaften, bestehen Sie mit den Protagonisten erstaunliche Abenteuer und lernen Sie manche Geheimnisse der Geschichte und einiger historischer Persönlichkeiten kennen. Aber alles schön langsam. Bei Hockenstetts geht nichts besonders schnell und sie haben immer viel Zeit. Und Zeit werden auch Sie brauchen, um die fast 500 Seiten dieser Familiengeschichte zu lesen. Keine Sorge – zwischendurch gibt es immer etwas Gutes zu essen. Und das Beste: Die exklusiven Rezepte warten im Anhang des Buches.

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Vorwort

„Sie sind gefeuert!“ Drei Worte und in der Regel ein Rufzeichen, die wohl bei jedem Arbeitnehmer Panik aufkommen lassen. Arbeitslosigkeit. Erwerbsunfähigkeit. Existenzangst. Verlust des Selbstwertgefühls. Beziehungskrise. Sozialer Abstieg. Verelendung. Alkoholismus. Beschaffungskriminalität. Knast. Keine gute Situation und noch schlechtere Aussichten für - nennen wir sie einmal - Normalbürger. Dabei ist ein Jobverlust - zumindest in unserer heutigen, westeuropäischen Gesellschaft – bei weitem nicht mehr so tragisch, wie noch vor einigen Jahrzehnten. Soziale Netze sorgen für ein gewisses Maß an Sicherheit, ein Grundeinkommen verhindert zumindest den Hungertod, Arbeitsämter und Jobcenter tun wenigstens so, als ob sie einem wieder beruflich auf die Beine helfen könnten und wenn man nicht über 40 ist, hat man sogar eine kleine Chance, wieder im Berufsleben Tritt zu fassen. Und mit sehr viel Glück bleibt nur ein kleiner Knick in der Karriereleiter.

Langzeitarbeitslosen, die aufgrund ihres Alters, diverser Gebrechen oder anhaltender Wirtschaftskrisen trotz aller Bemühungen keinen Job finden, sollte unser aller soziales Mitgefühl gelten. Nicht zuletzt eingedenk der Tatsache, dass jeden von uns das selbe Schicksal ereilen kann und wir in einer entsprechenden Situation über jede Hilfe dankbar wären. Aber es gibt auch andere, weniger ambitionierte, weniger karrieregeile und – man kann sie nicht anders benennen – stinkfaule Tagediebe, Müßiggänger, Faulpelze, Sozialschmarozer! Arbeitsscheues Gesindel, das zur optimalen Ausnützung von Sozialleistungen eine enorme Energie aufbringt und nebenbei zu diesem Zweck sogar eine erstaunliche Kreativität entwickelt. Für manche wird diese Untätigkeit gar zur Lebensphilosophie und stolz prahlen sie damit, wie es ihnen gelingt, ihre Mitmenschen jahrelang abzuzocken. Ein unverständlicher Stolz, weil ein Leben am Existenzminimum eigentlich nicht allzu verlockend klingt.

Und dann gibt es noch eine Familie, die von Grund auf arbeitsscheu ist. Die die Vermeidung jeder Art von Anstrengung zur Familientradition erhoben hat, die niemals durch irgendwelche Leistungen aufgefallen ist und deren Mitglieder niemals auch nur den kleinsten Finger gerührt haben, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Meine! Und das nicht erst seit Väter- oder Großväterzeiten. Nein! Vielmehr frönt meine Familie nunmehr seit beinahe 700 Jahren dem dolce far niente! Nichts haben sie geschaffen, nichts aufgebaut, nichts geleistet und nichts haben sie hinterlassen.

Unser Stammbaum ist eine unendliche Aneinanderreihung von Faulpelzen, Gammlern, aber auch Tunichtguten, mehr oder weniger Kriminellen, Bettlern, Clochards, Pennern, Bohemians sowie Adeligen, Politikern, Beamten und sonstigen Nichtsnutzen. Meine Familie – das ist Faul- und Trägheit auf höchstem Niveau! Einzigartig in Europa, wenn nicht sogar weltweit. Bräuchte man ein neues Synonym für arbeitslos, dann wäre dies unser Familienname. Und das ist er ja eigentlich auch. Wobei ich eigentlich nur einer Seitenlinie derer von Hockenstett entstamme, der der Sinn für den Müßiggang etwas abhanden gekommen ist und der einer geregelten Tätigkeit nicht mehr ganz so abhold ist wie ...

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr von Gaens.“

„Ja, bitte? Ach Sie sind es, der Erzähler! Sie sind schon hier? Ich habe Sie erst in zwei bis drei Seiten erwartet.“

„Darum geht es ja gerade. Es wäre nämlich an der Zeit, mit dem Vorwort langsam fertig zu werden und mit dem ersten Kapitel zu beginnen. Die Leser werden schon ein wenig ungeduldig.“

„So, so. Ungeduldig, meinen Sie? Nun, ich hätte mich gerne noch ein wenig über meine Familie ausgelassen.“

„Aber das tun Sie ohnehin auf den nächsten 500 Seiten. Lassen Sie uns doch einfach beginnen!“

„Na schön. Nur noch einige kurze Sätze, denn die sind für die Leser, das Buch und für das Verständnis für unsere Familiengeschichte essentiell!“

„Bitteschön. Es sind Ihre Familie, Ihr Buch und Ihre Leser. Letztere noch!“

Nun gut, da ich angehalten wurde das Vorwort zu beschließen, mache ich Sie nur, bevor ich an den Erzähler übergebe, kurz mit der Tatsache vertraut, dass die europäische Geschichte, ja die Geschichte der Welt, ohne meine Familie wahrscheinlich eine vollkommen andere wäre. Vielleicht.

Denn ungeachtet des betrüblichen Umstandes, dass die Mitglieder meiner Familie seit Jahrhunderten auf der faulen Haut liegen, ist es ihnen dennoch gelungen, durch bloße Untätigkeit, Desinteresse an jeglicher Form von Arbeit, einem ausgeprägten Phlegma sowie absoluter Gedanken- und Energielosigkeit, müde und antriebslos wie sie immer waren und sind, die europäische Geschichte doch ein wenig zu beeinflussen. Vieles wäre ganz anders gekommen. Manche Dinge hätten nicht passieren müssen, dafür wären manche Entdeckungen nicht, oder vielleicht erst viel später gemacht worden. Manche vielleicht auch eher früher. Kriege hätten vermieden, Schlachten gewonnen werden können, hätte nicht der eine oder andere Vertreter derer von Hockenstett nicht zum falschen – oder aber auch richtigen – Augenblick nicht Nichts getan.

Und darüber hinaus müssten wir heute wohl auch auf so manchen kulinarischen Genuss verzichten! Denn außer der eigenen Vermehrung galt die einzige Leidenschaft dieser Familie stets dem Essen. Sie frönten seit jeher dem Genuss und der Völlerei und entwickelten dabei - zumindest in gewissen Grenzen - eine erstaunliche Phantasie. Hatten sie doch zu allen Zeiten die entsprechende Muße, um sich die diversen Köstlichkeiten auszudenken, sie im Laufe der Generationen zu variieren, weiterzuentwickeln und zu verfeinern, als auch die Zeit, die für die Zubereitung dieser - heute teilweise legendären - Speisen unbedingt nötig ist.

Müßiggang ist bekanntlich aller Laster Anfang. So – und nicht nur so – gesehen, ist meine Familie eine ausgesprochen lasterhafte. Aber sie werden es erleben, manchmal liegt in der Ruhe, bzw. bei meiner Verwandtschaft im Ausruhen, die wahre Kraft.

Ihr

Erich von Gaens

PS: Weil mir vor allem der Herr Erzähler auf den nun folgenden Seiten hin und wieder, andeutungsweise, den Vorwurf machen wird, es mit der Wahrheit nicht immer ganz genau zu nehmen, möchte ich dem gleich an dieser Stelle vehement widersprechen. Sicher, manche Gegebenheiten klingen phantastisch. Und sie sind es wohl auch. Aber auch wenn man ganz scharf hinsieht, die Historie ganz genau unter die Lupe nimmt, alle Eventualitäten hinterfragt und alle Ereignisse bestmöglich ausleuchtet, so muss doch eine gewisse, klitzekleine Unschärfe, die den Lauf der Geschichte aber nur ganz geringfügig beeinflusst, trotzdem in Kauf genommen werden. Aber seien Sie sich bitte versichert, dass, obwohl leider allzuoft belastbare Beweise oder gar offizielle Aufzeichnungen nicht verfügbar sind und viele der historischen Ereignisse im Halbdunkel der Geschichte liegen, ich mich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht habe, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die authentische Geschichte der Hockenstetts – oder wenigstens einen Teil davon – vorzulegen, die Sie nunmehr in Händen halten und mit deren Lektüre Sie jetzt endlich beginnen können. Viel Vergnügen!

Lorencz Hoggenstad

oder: Im Spätmittelalter

„Er ist ein wahrer Tunichtgut, ein Nichtsnutz vor dem Herrn, ein notorischer Tagedieb, ein Rumtreiber, ein Bummelant und ein gar recht fauler Sack und übler Zeitgenosse. Darüber hinaus gilt es als erwiesen, dass er der ebenfalls hier anwesenden Kleinstbäuerin, der armen, alleinstehenden und darüber hinaus gebrechlichen und überhaupt von den Widrigkeiten des Lebens gar arg gebeutelten Witwe Walpurga Babelotzky, ihre einzigen beiden Hühner gemopst, die bedauernswerten Vögel gemeuchelt, in einer äußerst schmackhaften Soße gegart und anschließend, wie vermutet werden darf, mit höchstem Genuss ratzeputz aufgefressen hat. Als Beweis für diese ruchlose Tat dürfen die Federn der beiden Tiere angesehen werden, mit denen er einen alten Mehlsack - dessen Herkunft und die Umstände wie er in seinen Besitz kam nach wie vor ungeklärt sind und vermutlich demnächst Gegenstand einer weiteren Verhandlung sein werden - ausgestopft hat, und der ihm seitdem als Kissen diente und auf dem er wohl, wie mit höchster Wahrscheinlichkeit zu vermuten, jedoch leider nicht zu beweisen, ist, auch nach so manch anderen Untat seinen ob der für ihn so ungewohnten Anstrengungen müden Kopf zur Ruhe zu betten pflegte.“

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