Gerne hätte es der Graf gesehen, wenn sein Wirtshaus als das beste und beliebteste weit und breit bekannt gewesen wäre. Allein, es gab in seinem Refugium kein weit und schon gar kein breit. Handelte es sich doch viel eher um ein kleines, enges Tal. Aber immerhin, in der näheren Umgebung gab es für die Bewohner des Tales, vielmehr für den Großteil des männlichen Bevölkerungsanteils, keinen besseren Platz als das Wirtshaus „Zum fröhlichen Gockel“, oder wie sie es der Einfachheit halber nannten „beim Gockel“, um einen Großteil der Einkünfte, die sie mühevoll auf dem kargen Boden erwirtschafteten, selbstverständlich nach Abzug des Zehents an den Grundherren, sinnlos zu verprassen.
Über den Umsatz an Wein und Bier im „Gockel“ konnte sich der Graf nicht im mindesten beklagen. Das lief wirklich gut. Beziehungsweise floss. Denn aus den Fässern und Zapfhähnen floss das begehrte Nass hektoliterweise in die durstigen Kehlen der Untertanen. Zumindest in deren, die es sich einigermaßen leisten konnten. Billig war das Vergnügen nicht und so mancher fröhliche Zecher, der am nächsten Morgen selbige nicht bezahlen konnte, fand sich stantepede im Robot wieder.
Was ihn aber wirklich wurmte und persönlich zutiefst verärgerte, war die Tatsache, dass die Küche so gar nichts zu bieten hatte. Schon lange vor Sternen- und Haubenauszeichnungen und in einer Zeit, in der sich der Großteil der Bevölkerung tagtäglich und fast ausschließlich von Gemüse und Sterz ernährte, Gewürze unbekannt oder unbezahlbar waren und Fleisch nur an höchsten Feiertagen kredenzt wurde, galt seine Liebe dem guten Essen und der Haute cuisine. Schließlich hatte man das Hochmittelalter schon hinter sich und befand sich bereits im Spätmittelalter und daher war es höchste Zeit, etwas Ordentliches auf den Tisch zu bringen! Was ihm fehlte, war das spezielle Etwas. Ein einzigartiges Gericht auf der Speisekarte, um das sich die Leute reißen würden und seinem „Restaurant“, wie er sein Wirtshaus gerne nannte und wofür er von seinen adligen aber ziemlich derben Kumpels oft bestenfalls Unverständnis, viel öfter jedoch offenen Hohn - der ihn fast noch tiefer traf als die ewigen Witzelein über seine Minigrafschaft und die mitleiderregende Burg - erhielt, den einzigartigen Kick geben und es sogar über die Grenzen seiner mickrigen, kleinen Grafschaft hinaus Berühmtheit erlangen lassen würde.
Und dieses Gericht gab es. Angeblich. Persönlich hatte er es noch nie gekostet, aber gerüchteweise hatte er davon gehört. Die Leute in seiner Umgebung, also alle seine Untertanen, schwärmten von einem Hühnchen in Weinsauce, das angeblich ein gewisser Lorencz Hoggenstad auf einzigartige Weise zuzubereiten wusste. Nachweislich gegessen hat es keiner von ihnen. Aber das Gerücht um diese Delikatesse hielt sich hartnäckig. Dieses Rezept musste er haben! Denn er aß für sein Leben gerne und viel. Und gerne aß er noch viel mehr. Er, den sie den „Wohlgenährten“ nannten. Und das beste Futter war für ihn wohl nur gut genug. Außerdem wollte er doch unbedingt sein Lokal, seinen Umsatz und somit sein persönliches Einkommen pushen. Und auch sein Geflügelhof sollte nicht mehr nur dem eigenen Völlegefühl dienen, sondern endlich Gewinn abwerfen. Und dafür war ihm jedes Mittel recht.
Selbstverständlich konnte er, der Graf von Abenberg, nicht mit einem dahergelaufenen, mittellosen, wie man ihm berichtete einigermaßen faulen Nichtsnutz, der unter Umständen, vielleicht - der Herr steh‘ uns bei - sogar mit einem selbst über viele Ecken verwandt ist und darüber hinaus auch nicht besonders gut riechen soll, über ein so bedeutendes Geschäft mit einer so unermesslichen Tragweite für seinen „Gockel“ reden! Also musste er von vornherein auf andere Mittel zur Erlangung des vermeintlichen Wunderrezeptes greifen. Das unerklärliche Verschwinden zweier Hühner vom Hof einer Untertanin, die ihm mit ihren Vögeln ohnehin nur Konkurrenz zu seinem eigenen Betrieb machte, was doch eigentlich gar nicht sein durfte, ein paar Federn vom eigenen Hühnerhof, gestopft in einen Sack vom Müller eines befreundeten Grafenkollegen, eine dezente, anonyme Denunziation, ein Tunichtgut als Beschuldigter und er selbst als oberster Richter - ein wirklich gut eingefädelter, wohlüberlegter, gerissener, ja, ein teuflischer und idiotensicherer Komplott zur Erlangung des begehrten Rezeptes. Und wie der Plan aufging!
„Mit diesem Urteil hofft das allerhöchste Gericht, nicht nur der bemitleidenswerten Witwe Babelotzky Genugtuung und Ersatz für ihren Verlust der beiden Vögel zu verschaffen, als vielmehr den Verurteilten, den, wie wir mit Genugtuung vermerken nunmehr glockenwachen Lorencz Hoggenstad, mittels dieses Urteils wieder auf den rechten, arbeitssamen Pfad der Tugend zurückzuführen und auf dass er seiner lasterhaften Faulheit entsage, ein gottgefälliges Leben führen möge indem er hart arbeite und brav seinen Zehent an unseren hochwohlgeborenen Herrn, Graf Lynhartt von Abenberg, abführe und sein Hühnchen in Weinsauce, das demnächst im Wirtshaus „Zum fröhlichen Gockel“ zu einem unverschämt günstigen Einführungspreis serviert werden wird, allen hier Anwesenden auf das Vorzüglichste munden möge. Das Urteil ist unwiderruflich und sofort vollstreckbar.
Abenberg, am 15. August im Jahre des Herrn 1313.“
Eine Urteilsbegründung! Nicht nur unüblich für die damalige Zeit, nein, vielmehr ein Fauxpas des Richters, der damit eindeutig auf die wahren Absichten hinter dieser Gerichtsfarce hindeutet. Aber das ging im allgemeinen Gesabber und der Vorfreude auf die zu erwartende kulinarische Offenbarung unter. Am 16. August 1313 diktierte Lorencz Hoggenstad dem Grafen, der sich dieses „Geständnis“ um keinen Preis entgehen lassen wollte und daher persönlich in Begleitung seines Chefkochs aus dem „Gockel“, einem Advokaten und einem des Schreibens mächtigen Dieners zu ihm ins Verlies hinabstieg, die Zutaten und die Zubereitung seines Hühnchens in Weinsauce. Diese Abschrift ist leider nicht erhalten, aber das Gericht wurde wie erwartet der Renner im „Gockel“! Schon während Lorencz seine wenigen Habseligkeiten, oder das, was die Gefängniswärter nicht geklaut hatten, zusammenpackte und sich auf den Weg auf den Hof der Witwe Walpurga Babelotzky machte um seinen Frondienst anzutreten, loderten im „Gockel“ die Feuer in der Küche und in den Pfannen schmorten reihenweise die frisch geschlachteten Hühner vom Hof des Grafen. Am frühen Abend fanden sich, fein herausgeputzt, die adligen, nunmehr nicht mehr herablassenden sondern gierigen Kumpels des Grafen, einige Vertreter des immer hungrigen Klerus sowie natürlich der Graf und seine Sippschaft im „Gockel“ ein.
Schon beim Betreten des schummrigen Gastraumes empfing die illustre Gesellschaft ein himmlischer Duft von geschmortem Geflügel und allerlei Kräutern. Und kaum trugen die Lakaien des Grafen die ersten Platten mit den in einer wundervollen Weinsauce ruhenden Hühnern auf, artete der als elegantes Dinner geplante Empfang in ein wüstes Schlachten und Stechen und Gieren nach den besten Stücken aus. Gerne hätte man gebratene Erdäpfel dazu gereicht, aber die waren in Europa damals noch nicht bekannt. Aber die kommen noch und werden sich als exzellente Beilage erweisen. Wie zu dieser Zeit üblich machte man sich nicht viel aus Besteck sondern Männlein und Weiblein griffen beherzt mit den Fingern zu. Es entspann sich ein einziges Schmatzen und Schlürfen und die abgenagten Knochen flogen durch den Raum, dass es eine Freude war! Wie aus einigermaßen verlässlichen Quellen bekannt, dauerte das orgiastische große Fressen bis weit nach Mitternacht und es dauerte noch einmal mindestens eine Stunde, bis sich alle Gäste mit vollen Wampen und abgefüllt bis obenhin mit dem besten Rotwein des Kellers, Marke „Donnerrebe“, vom spendablen Gastgeber verabschiedet und ein um das andere Mal auf das Herzlichste bedankt hatten und sich in ihren Kutschen und Sänften auf den Heimweg zu ihren Burgen und Klöstern machten. Natürlich nicht ohne den einen oder anderen mehr oder minder dezenten Rülpser.
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