Am nächsten Tag, den 17. August 1313, konnte dann auch das gemeine Volk in den Genuss der lange ersehnten und im Urteil gegen Lorencz Hoggenstad vollmundig angekündigten Delikatesse kommen. Wenn denn im Sparstrumpf genügend Reserven vorhanden waren. Denn entgegen der Ankündiung von vor zwei Tagen verlangte der Graf einen gesalzenen Preis für ein halbes Huhn, ein wenig Weinsauce und keine Beilage. Und Salz war im 14. Jahrhundert unverschämt teuer! Trotzdem brummte das Geschäft und der Ruf des „Gockel“ als erste Adresse für Feinschmecker eilte über das Land und zog Gourmets aus Nah und Fern magisch an. Begünstigt wurde der kulinarische Tourismus durch die günstige Verkehrslage des Dörfchens Abenberg. Auf den selben Routen, die vormals von feindlichen Heeren zum - dank der sinnlos teuren aber nutzlosen Burg - einfachen Durchmarsch in das Landesinnere genutzt wurden, strömten nunmehr ausgehungerte Horden von Vielfraßen in das liebliche Tal.
Der Graf war ein Star. Und ein gemachter Mann. Und darum ließen Neider, die ihm und seinem „Gockel“ den Erfolg nicht gönnen wollten, natürlich nicht allzu lange auf sich warten. Versuche den Koch zu bestechen um von ihm das Rezept für die Hühnerköstlichkeit zu erlangen, hatte er wohlweislich von vornherein unterbunden, indem er Frau und sämtliche Kinder des Kochs (und natürlich auch den Advokaten, den schriftmächtigen Diener inklusive deren gesamter Verwandtschaft) in den Kerker seiner Burg - vielleicht der einzige Luxus für Burgbesitzer, den seine Vorfahren haben einbauen lassen - verschleppen ließ. Und Kidnappingversuche scheiterten daran, dass er den Koch, das gesamte Küchenpersonal und überhaupt den gesamten Küchentrakt von einigen seiner Rittersleuten hermetisch abriegeln ließ.
„Verzeihen Sie bitte wenn ich unterbreche, Herr von Gaens. Aber handelt es sich in der Geschichte nicht ein bisschen zu viel um Geflügel? Was ist mit der Faulheit?“
„Kommt schon noch, mein lieber Erzähler! Wir sind doch erst ganz am Anfang. Und sie werden sehen, das Federvieh wird im Laufe der Geschichte noch öfter eine Rolle spielen.“
„Nun gut. Wie sie meinen. Dann fahre ich jetzt mit Ihrer Erlaubnis fort?“
„Ich bitte darum!“
Nun, der Erfolg des „Gockels“ und des Hühnchens in Weinsauce ist unbestreitbar. Sowohl gesellschaftlich als auch finanziell erlebte der Graf einen Höhenflug. An anderer Stelle musste er jedoch eine herbe, selbst verschuldete Niederlage einstecken! Denn die Geschichte hat auch noch eine andere Seite. Oder deucht Ihnen, verehrte Leser, nicht auch, dass wir den Lorencz Hoggenstad ein wenig aus den Augen verloren haben? Tatsächlich! Aber da ist er jetzt wieder. Gerade auf dem holprigen Weg zum abgelegenen Gehöft der Witwe Babelotzky. Was war in der Zwischenzeit mit ihm geschehen? Bis jetzt haben wir ihn nur schläfrig und eher gleichgültig seiner Urteilsverkündung entgegenschlummernd erlebt. Dass man ihn, der sich aktuell keiner besonderen Schuld bewusst war, des Hühnerdiebstahls bezichtigte und unter solch fadenscheinigen Vorwürfen in ein modriges Loch geworfen hatte, machte ihm nicht besonders viel aus. Er hatte bisweilen, notgedrungen, um seine unbedingt notwendigen Ruhepausen einhalten zu können, sich schon an übleren Orten zur Ruhe gelegt. Auch die Aussicht, und damit rechnete er, den Sommer in eben diesem finsteren Loch verbringen zu müssen, war Angesichts des strahlenden Sonnenscheins dieser Tage und der Vorstellung, diese besser auf einer lauschigen Wiese liegend oder an einem fröhlich plätschernden Bach lümmelnd zu verbringen, betrüblich, aber nicht weiter schlimm. Wirklich schlimm war dann das Urteil! Nicht die Sache mit dem Rezept für sein berühmtes Hühnchen. Das war ihm so was von egal. Wusste er doch, dass sie es niemals, trotz ehrlicher und ausführlicher Erklärung, so hinbekommen würden wie er. Aber Frondienst! Harte Arbeit! Zwei ganze Monate! Und dann noch unter der Aufsicht der alten Witwe Babelotzky! Das war die Hölle. Was das Gericht fälschlicherweise als glockenwach erkannte, waren in Wirklichkeit nur seine schreckensgeweiteten Augen. Tatsächlich war er vollkommen Tilt!
Und jetzt stand er da. Vor dem Tor des Grundstücks der Witwe Babelotzky. Er hatte von seinen Gammlerkollegen schon so einige schreckliche Geschichten über sie gehört. Und dass sie mit ihrem Reisigbesen hervorragend umzugehen verstand und damit schon so manchen Bettler, Schnorrer, Dieb und sonstiges Gesindel mit einer ordentlichen Tracht Prügel vom Hof gejagt habe.
Aber siehe da, wer empfing den betrübten Verurteilten da in der Tür zu ihrer Hütte stehend? Ein gar überhaupt nicht altes und vor allem ganz und gar nicht gebrechliches, geschweige denn unansehnliches weibliches Wesen! Es verhielt sich nämlich so: Walpurga Babelotzky, geborene Vl war tatsächlich vom Leben ein wenig durchgebeutelt worden. Wurde sie doch schon im zarten Kindesalter von ihren Eltern, Sewfrid und Mechthild Vl, aus Bequemlichkeitsgründen und um die Kosten für eine Ausbildung zu sparen, an den stinkigen, ekligen Friedlein Babelotzky verheiratet worden, der ein alter Sack war und ein Trunkenbold obendrein, aber den Vorteil hatte, auf eine Mitgift zu verzichten, eine kleine Hütte sein Zuhause nenne durfte und ein paar Quadratmeter des Grundes des Grafen von Abenberg mehr schlecht als recht bewirtschaftete. Und zwei Hühner hatte er auch. Immerhin - ein Kind aus dem Haus, noch 13 weitere irgendwie anzubringen. Die Ehe, die von einem vorbeireisenden Bettelmönch auf denkbar unspektakuläre Weise geschlossen wurde, hielt auf den Tag genau ein Jahr. An ihrem ersten Hochzeitstag kam der alte, stinkige Friedlein, Oberkante Unterlippe besoffen aus dem „Gockel“ nach Hause, plumpste in den Bach am Fuße seines Grundstücks und, da niemand außer Walpurga, die mit ihrer Bratpfanne auf ihn wartete um ihn damit zu verdreschen, da war um ihm heraus zu helfen, und die wollte einfach nicht, ersoff in diesem mehr oder weniger jämmerlich.
Somit wurde Walpurga im Alter von gerade einmal 15 Jahren Witwe und lebte fortan alleine mit ihren beiden Hühnern in ihrer kleinen Hütte auf ihrem kleinen Grundstück. Sie war schon ein wenig hantig, hatte nicht nur Haare auf den Beinen sondern auch auf den Zähnen und ließ sich so schnell nichts gefallen. Sie vertrieb, wie bekannt, so manchen Tunichtgut, wobei ihr der Reisigbesen und die alte Bratpfanne wertvolle Dienste erwiesen. Und das ging so, gut fünf Jahre lang, bis zu dem traurigen Tag, an dem ihre beiden Hühner über Nacht, mir nichts, dir nichts, einfach verschwanden. Futsch! Und die Nachricht, dass der vermeintliche Dieb aufgrund eines anonymen Hinweises dingfest gemacht werden konnte, befriedigte sie schon sehr. Dass ihr dann der Schuft zur Wiedergutmachung ins Haus und auf den Hof geschickt wurde, machte sie dann eigentlich wieder weniger froh. Und da stand er nun. Groß, eigentlich fesch - das war ihr schon im Gerichtsaal aufgefallen - und irgendwie sehr ausgeruht und entspannt. Ganz und gar nicht unsympathisch!
Und auch sie war ja im großen und ganzen nicht unansehnlich und Lorencz Hoggenstad, der ihre Anwesenheit im Gericht zunächst verschlafen hatte und nach der Urteilsverkündung ganz andere Sorgen hatte, sah seine Zukunft, oder zumindest die nächsten beiden Monate, schon in einem wesentlich freundlicheren Licht. Außerdem war Sommer und es gab auf dem Feld nicht übermäßig viel zu tun. Und da man sich ja irgendwie die Zeit vertreiben musste, begab es sich, dass Walpurga Mitte Oktober bereits im zweiten Monat schwanger war. Lorencz Hoggenstad beschloss, nach Verbüßung seiner Strafe, die sich alsbald als absoluter Glücksfall für ihn erweisen sollte, zu bleiben.
Walpurga, anfangs noch äußerst skeptisch was sie denn mit dem verurteilten Hühnerdieb auf ihrem Hof anfangen sollte, lamentierte nach der Urteilsverkündung beim Grafen von Abenberg aufs Herzerweichendste und bat um sein Verständnis, dass es doch nicht angehen könne, dass sie zum einen keine Hühner mehr habe und jetzt zusätzlich noch einen bekanntermaßen stinkfaulen Vogelmeuchler durchfüttern müsse und seine Hochwohlgeboren möge ihr doch in seiner unermesslichen Großzügigkeit zwei der Hühner von seinem Hof, auf dem er doch gewiss Hunderte der gackernden Tiere besäße, überlassen. Sie bettelte und flehte und der Graf, ein wenig irritiert, auch ein wenig angewidert von dem niederen Gesinde, aber in Hochstimmung aufgrund der Tatsache, dass er alsbald das wertvollste Rezept der Welt sein Eigen nennen würde, gewährte dem flennenden Weib in seiner unermesslichen Güte und mit großer Geste - schließlich waren so ziemlich alle VIPs der umliegenden Burgen anwesend - die Bitte. Mit der Erlaubnis des Grafen in der Tasche eilte Walpurga als gleich zu dessen Hühnerhof und befahl, ja, man kann es nicht anders nennen, dem Verwalter ihr Zugang zu den Gehegen zu gewähren, auf dass sie sich zwei Vögel aussuchen könne.
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