„Und ich wünsch dir nun einen guten Schlaf, Jensilein. Und nun träum was Schönes!“
Oma verließ das Schlafzimmer. Ich machte es mir unter der Bettdecke bequem. Die Wärme umhüllte mich. Wie es wohl wirklich damals war? , dachte ich. Menschen sind ja so, dass sie etwas Erlebtes nachträglich ausmalen und mit Träumen und Wünschen ausfüttern, die sie haben. Ob aus dem netten Wunsch so wohl eine Art „Prophezeiung“ geworden war?
Ich konnte nicht einschlafen. Überhaupt nicht. Eine echte Prinzessin! So lag ich da, im Bett, und ich malte mir aus, wie das damals wohl gewesen sein könnte: Mein bürgerlicher Vorfahre war einer echten Kronprinzessin begegnet!
Kapitel 2: Die Verheißung von Kamenz
Ein heißer Tag des Spätsommers 1859 in jenem Waggon der Preußischen Eisenbahn. Der Waggon hielt in Kamenz. Dass er trotz Besetzung mit hoheitlichen Reisenden dort auf Gleis 3 zum Stehen kam, das war kein Zufall. Die drei edlen Damen, Kronprinzessin Augusta, Marie „Mimi“ von Buch und Cosima von Bülow, reagierten enerviert. Auch Bahnmeister Friedrich Köller war extrem nervös. Er hatte einen Plan. Er setzte seinen ganzen sächsischen Charme ein, und sein kleines Repertoire an höfisch-französischen Vokabeln, um die Hoheiten zu besänftigen.
„Pardon, Mesdames, wir haben een kleenes, technisches Probleem zu behem. Een Waggon is defekt, es gibt leeder ene kurze technisch bedingte Haltepause. Nutzen Sie sie zur Recréation, wir werdn ihnen frisches Mineralwasser vom benachbarten Kruggut zu Geierswalde anbieten!“
„Oh non, welch eine Malesse!“, stöhnte die Kronprinzessin und griff zur Bekämpfung ihrer Transpiration zu einem Fläschchen Zitronenwasser. Sie tupfte es mit einem feinen Seidentuch auf ihre Stirn.
Bahnmeister Friedrich Köller von Kamenz bedauerte sehr und vielmals. Ein weiterer Waggon sei sogar ganz ausgefallen, sächselte er, und es gebe daher zudem zwei Erste-Klasse-Passagiere, die die ehrenwerten Hofdamen untertänigst um die höfliche Erlaubnis bäten, im hoheitlichen Abteil der Prinzessin mitreisen zu dürfen.
„Bürgerliche?“, fragte Cosima von Bülow entsetzt.
„Aber Cosima, wir sind unserem Volk nahe!“, bestimmte die Prinzessin und erkundigte sich nach deren Namen.
„Es sind en Kruggutsbesitzer und en hoch ehrenwerter Strumpfwarenfabrikant, eure Hoohet!“, antwortete der Bahnmeister, „die Herren Friedrich Wilhelm Herz aus Senftenberch un Carl August Säuberlich, die ihrer Hoohet diese Bitte vortrachen.“
„Strumpfwaren – das interessiert uns. Die könnten wir noch brauchen. Lassen sie sie zusteigen, vielleicht kennen sie die neuste Mode aus London und Paris!“
„Umzugsmanager“ Friedrich Köller dankte untertänigst und vielmals, und er schloss seine Dankeshymne mit den Worten „Ich geh nu‘ die Herrn hooln.“. Eilig holte er die beiden „Erste-Klasse-Reisenden“ herbei. Der Strumpfwarenfabrikant Friedrich Wilhelm Herz aus Senftenberg war „zufällig“ der Schwager seiner Gattin Louise, einer geborenen Krechler. Sein ebenfalls „zufällig“ anwesender Schwiegervater war Carl August Säuberlich, der Kruggutsbesitzer zu Geierswalde. Friedrich Köllers Herz klopfte. Seine List hatte zum Erfolg geführt. Der Bahnmeister hatte sie auf Drängen seiner Verwandten eingefädelt und den technischen Defekt „arrangiert“, damit sein Schwager endlich eine Gelegenheit fand, um Kundschaft am Hofe zu werben. Und sein Schwiegervater wollte zum Dank für die Mitreisegelegenheit eine Einladung an die „gestrandete“ Prinzessin aussprechen, auf sein Kruggut zu Geierswalde natürlich.
„Hoffentlich können wir bald weiter, liebe Augusta!“, stöhnte Marie von Buch. Sie erbat sich etwas von dem Zitronenwasser aus dem Flacon der Kronprinzessin. Der Flacon wurde von einem Ornament mit Krone geziert. Prinzessin Augusta Marie Luise Katharina von Sachsen-Weimar-Eisenachwar ihr voller Name, die Gemahlin des preußischen Kronprinzen Wilhelm I. von Preußen. Sie war von liberaler Gesinnung und hoher Bildung. Erneut trug sie etwas erfrischendes Zitronenwasser auf die in der Sommerhitze errötete Gesichtshaut auf. Dann redete sie weiter.
„Ja, Marie, es ist zu heiß heute. Erst recht für mich, die frisch gebackene Großmutter. Du weisst doch, meine geliebte britische Schwiegertochter Vicky hat meinem Friedrich endlich ein Kind geboren am.“
Marie nickte.
„Am 27. Januar im Kronprinzenpalais!“, fügte die Prinzessin stolz hinzu. Aber bitte sehr, liebste Marie!“. Sie und reichte ihr den Flacon. „Die Erziehung Wilhelms haben wir dem Kalvinisten Georg Hinzpeter übergeben. Und du kannst dir nicht vorstellen“, fuhr Augusta fort, „wie glücklich ich bin, seit Vickis und Friedrichs Hochzeit! Mein Triumph! Unsere Vicky, Princess Royal of England, Enkeltochter der britischen Königin Victoria – welch eine Partie für meinen Sohn Friedrich! Hinreichend von ihrer Herkunft geprägt kann sie ihm und vielleicht auch meinem Prinzgemahl das zeitgemäße Bild der liberalen, britischen Monarchie vorleben. Auch unser werter Alexander Gustav Adolf Graf von Schleinitz vom Hof in Koblenz schwärmte immer wieder von ihr!“
„Ach, ich hoffe mit dir, Liebste!“, sagte Marie. „Und ich glaube, dein Prinzregent wird sich diesem Ideal verschreiben.“
„Wie froh ich war, dass Wilhelm das letztes Jahr im November bei Regentschasftsbeginn verkündet hat! Er sagte im Staatsministerium, dass wir bemüht sein müssen, bei den veränderten Prinzipien der Rechtspflege das Gefühl der Wahrheit und der Billigkeit in alle Klassen der Bevölkerung eindringen zu lassen. Und dass unser Preußen in Deutschland moralische Eroberungen machen muss, durch eine weise Gesetzgebung, durch Hebung aller sittlichen Elemente und durch Ergreifung von Einigungselementen, wie par exemple dem Zollverband.“ Augustas Augen glühten. Schließlich war sie es, die ihrem Gemahl genau diese Wortwahl vorgeschlagen hatte.
„Ja, eine neue Ära in der Politik!“, strahlte Marie. „Er hält auf die Verfassung. Und er hat Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen zum Ministerpräsidenten berufen – Gott sei Dank! Dieser konservative Karl Otto von Manteuffel ist damit abberufen, und die Reaktionszeit mit ihm!“
„Vorsicht, wir sind noch nicht am Ziel!“, sagte die Kronprinzessin. „Mein Gatte ist noch immer Soldat mit Leib und Seele! Er neigt zur Übertragung militärischer Kategorien auf das zivile Leben. Disziplin! Stell dir nur vor, neulich bei der Truppenparade im Palais: Als das von den Stabsoffizieren ersehnte Diner kam, zog Wilhelm einfach nur seine Semmel aus der Rocktasche!“
„Unser Kartätschenprinz!“ schoss es Marie durch den Kopf. Marie „Mimi“ von Buch saß neben ihr, blond, schlank, und hochgewachsen. Sie war Diplomatentochter. Ihr Vater, preußischer Ministerresident zu Rom, war verstorben. Ihre Mutter hatte neu geheiratet. Sie war in Begriff, Marie mit nach Paris zu nehmen, um sie dort gemeinsam mit ihrer Großmutter in die feine Gesellschaft einzuführen. So bekam Marie Kontakt zu Alexander Freiherr von Schleinitz, der am Hofe zu Koblenz verkehrte, bei Kronprinzessin Augusta und ihrem Gemahl Wilhelm, dem Kronprinz. Marie hatte stets ein liebenswürdiges Lächeln auf den feinen Lippen
Marie und Augusta flüsterten sich noch etwas zu. Sie kicherten. Cosima von Wagner las in einer Druckschrift. Mit einem Ohr verfolgte sie dabei das Gespräch ihrer Freundinnen. Denn auch sie, Cosima Francesca Gaetana von Bülow, kannte Wagner. Sie war schließlich die uneheliche, mittlerweile aber auch anerkannte Tochter des Komponisten Franz Liszt.
„Ja, die Männer, unsere Prinzen!“, sagte Cosima. „Manchmal schlagen sie auch bei uns ein wie eine Kartätsche!“
Augusta und Marie sahen zu ihr rüber. Sie hatte ihre Druckschrift weggelegt.
„Du meinst deinen Hans?“, sagte Marie.
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