„Du bist mir ja einer!“, lachte sie. „Ein ganz schlauer!“
Dann sah sie mich an. Sie stellte die Teller beiseite, die sie zum Abräumen aufgenommen hatte, und setzte sich neben mich.
„Weißt du was, Jens? Ich setze gleich Wasser auf, dann spülen wir jetzt zusammen und danach lese ich dir die Geschichte vor, wenn wir auf dem Sofa sitzen. Du brauchst noch nicht ins Bett gehen, um sie hören zu können.“
„Au ja.“
Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr ich strahlte. Zuhause las mir niemand Geschichten vor. Mutter machte die Küche, und Vater musste oft länger arbeiten. Er reparierte Schreibmaschinen. Mein Bruder und ich, wir mussten dann immer einfach so ins Bett gehen. Schlafanzug an, waschen, kurz zusammen zum Schutzengel beten und dann: Gute Nacht.
Heute war alles anders. Ich durfte das Besteck spülen und es abtrocknen, während Oma die Teller spülte. Als ich das Besteck in die Küchenschrank-Schublade einsortiert hatte, trocknete sie unsere beiden Teller ab. Ihre Schürze wedelte im Takt ihrer Handbewegung, als das Handtuch über die Teller huschte.
„Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass unsere Vorfahren von einem Rittergut kommen?“, fragte sie mich.
Ich staunte.
„Echt, Ritter? So echt mit Rüstung, Lanze und Eisenhelm wie im Mittelalter?“
„Nun ja, nicht ganz im Mittelalter. Das ist länger her. Nein, du hast in deinem Stammbaum einen Vorfahren, der war Pächter. Er verwaltete ein echtes Rittergut. Es lag Skada.“
„Skoda?“
„Nein, Skoda ist eine Automarke. Skada. Das war ein Dorf. Bei Senftenberg und Geierswalde. Das liegt in Ostdeutschland.“
Es schien spannend zu werden. Oma kam aus Ostdeutschland. Da war die DDR, und als Kind war für mich alles, was von dorther kam, geheimnisvoll. Schließlich lag das hinter der Mauer, und alle Erwachsenen redeten davon, dass da die Ostzone war und dass man erschossen wurde, wenn man versuchte, von dort aus über die Mauer in unsere BRD zu kommen. Oma kam aus Thüringen, doch ihre Vorfahren aus der Säuberlich’schen Linie waren aus der Gegend um Geierswalde und Senftenberg. Ich stellte mir einen Wald vor, mit Geiern.
„Geierswalde liegt bei Bautzen in der Lausitz, nahe Hoyerswerda. Das ist Brandenburg, fast schon in Sachsen – beim Spreewald.“
In meiner Phantasie kreisten die Geier über einer bewaldeten, hügeligen Gegend. Ritter jagten durch das Gehölz, Fasanen hinterher, und irgendwo im tiefen Wald gab es eine kleine Ritterburg. Sie hatte keine Türme und Mauern und glich eher einer Gaststätte. Es war ein kleines Rittergut.
Oma erzählte weiter. „Das Gut Lohsa wurde ab 1599 als Rittergut bezeichnet. 1836 ging es in den Besitz der Familie von Loebenstein über. Die verpachtete es dann an Carl August Säuberlich. Das ist mein Urgroßvater.“
Oma ging in die Küche und holte mir einen Traubensaft. Währenddessen erzählte sie weiter.
„Das Gut hatte ein Herrenhaus, Ställe, Scheunen und Wirtschaftsgebäude wie zum Beispiel ein Wirtshaus, eine Gaststätte. Es lag bei Steinitz. Der Ort ist umgeben von mehreren großen Wäldern. Im Osten sind die Driewitz-Milkeler Heiden, das größte unbesiedelte Waldgebiet der Lausitz. Da ist auch der Eichberg. Auf dem Eichberg ist ein Denkmal, denn da kämpften 1813 die Truppen von Napoleon. In dieser Gegend zwischen Bautzen, Senftenberg, Kamenz und Hoyerswerda leben auch die Weiden.“
„Weiden? Bäume?“
„Neinnein.“. Oma lachte. Sie schüttelte den Kopf.
„Das sind die Oberlausitzer Serben oder Sorben. Sie sprechen ihre eigene Sprache. Du könntest sie nicht verstehen. Sie nennen Lohsa auf Sorbisch Łaz, und Steinitz heißt zum Beispiel Šćeńca, das bedeutet: „Junger Hund“. Und da ist auch noch so ein Rittergut.“
Ich kostete den süßen Saft. In meiner Vorstellung kämpften die Ritter inzwischen in Eichenwäldern. In den bewaldeten Hügeln stellten sich ihnen Drachen und fremde Räuber entgegen, die sie erschlagen mussten, um ihre Güter zu verteidigen.
Oma reichte mir ein Büchlein. Ich las den Titel: „Stammbaum der Säuberlich’schen Familie, geschrieben von Carl August Säuberlich, Kruggutsbesitzer zu Geierswalde 1856.“
Ich nahm noch einen letzten, großen Schluck Traubensaft. Als ich das alte Büchlein von Oma vorsichtig öffnete, stieß ich auf ein Bild. Auf dem Bild war ein alter Mann zu sehen. Er hatte eine Krücke oder einen Gehstock in der linken Hand. Über den Schultern trug er einen schwarzen Umhang oder Mantel. Und er hatte einen echt strengen Blick.
„Das ist Carl August Säuberlich, Mutters Großvater“, erklärte Oma. „Er ist 1801 in Lohsa geboren worden und starb 1878 in Geierswalde. Sein Enkelkind Anna Elise war meine Mutter. Sein Vater Johann Gottlob Säuberlich der Jüngere war der Rittergutspächter zu Skada. Er wurde 1779 geboren – da waren die Vereinigten Staaten von Amerika gerade drei Jahre alt.“
Ist das lange her , ging es mir durch den Kopf. Fast schon bewundernd blätterte ich weiter in dem Buch. Währenddessen räumte Oma das leere Saftglas vom Tisch zurück in die Küche.
„Ach ja, Amerika.“ Oma seufzte sehnsüchtig träumend.
„Hab ich dir schon erzählt, dass mein Bruder in Amerika war? Aber er war in Südamerika, mit der kaiserlichen Marine bis nach Argentinien. Dafür ist dein Opa nicht nur mit dem Schiff in ferne Länder gefahren, sondern sogar geflogen. Er war im ersten Weltkrieg bei der Zeppelinbrigade und flog in Belgien über die feindlichen Linien, um Luftaufnahmen zu machen.“
„Er hat Luft fotografiert?“
„Nein, Soldaten. Die Truppenaufklärung hat nachgesehen, wo feindliche Soldaten sind. So weit nach oben konnten die nicht schießen. Später wurde er verwundet, war Weihnachten 1917 im Lazarett. Dann war er Kriegsveteran. Und er wurde Büromaschinen-Mechaniker, wie ein Vater. Er wurde Innungsmeister bei der Handwerkskammer. Er hatte sogar Handelsbeziehungen bis nach Russland. Von da kam die Schraube, mit der du vorhin gespielt hast.“
Oma zeigte auf mein magnetisches Lieblings-Spielzeug. Dann fuhr sie fort: „Und weil Schreibmaschinen zu kriegswichtigen Industriegütern gehörten, musste er im 2. Weltkrieg nicht mehr an die Front. Das war unser Glück.“
Ich lächelte verlegen. Ich war wirklich beeindruckt. Ich erinnerte mich an ihre Bilder aus dem Fotoalbum. Opa zu Pferde. Opa am Zeppelin. Opa in Uniform an der Feldküche auf einem Acker irgendwo in Belgien, von wo aus die Truppen bis nach Verdun gekommen waren.
Als ich weiterblätterte erläuterte Oma die jeweiligen Seiten aus der Familienchronik. Sie zeigte dabei immer auf die Abbildungen. „Das da ist meine Oma. Sie hieß dann Emilie Ernestine Säuberling. Sie war Carl August Säuberlich Tochter und hat dann 1863 den Strumpfwarenfabrikanten Friedrich Wilhelm Herz aus Senftenberg geheiratet. Und 1885 hat dann ihre Tochter Anna Elise Herz in Senftenberg meinen Papa geheiratet. Der hieß Otto Köller und kam aus Niederlahnstein. Er wurde 1860 geboren und war königlicher Civilsupernumerar, ein Privatsekretär seiner Majestät des Königs Wilhelm I von Preußen.“.
Mein Kopf drehte sich, als es ins Bett ging. Oma hatte mir so viel erzählt. Aber es war spannend, und so ließ ich mir vor dem Einschlafen noch mehr aus ihrer Chronik vorlesen. Das, wo dort eine Prinzessin auftauchte. Dieser Friedrich Herz aus Senftenberg, erzählte Oma, war ihr 1859 in Kamenz begegnet. Er hatte der durchreisenden Prinzessin und ihren Hofdamen eine Erfrischung reichen dürfen, und ihre Begleit-Dame Marie und sie hatten ihm dafür gedankt. „Möge Ihnen der liebe Gott dafür gewähren, dass auch sie oder ihre Nachkommen einst reizvolle Dinge aus einer anderen Welt dafür bekommen – Ihnen und Ihrem freundlichen Bahnmeister Friedrich Köller hier!“, hatte die Dame Marie im Auftrag der preußischen Prinzessin gesagt. Omas Augen glänzten. Sie erzählte, wie die Prinzessin ihrem Vorfahren und seiner Familie wohl etwas richtig Besonderes und Nettes gewünscht haben muss, als sie ihm in diesem Eisenbahnwaggon begegnet war. Oma versprach mir, dass es sich bestimmt noch erfüllen werde.
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