Bayrisch. Ich verstand nur Banhof. Naja, wenigstens teilweise. Eigentlich vertstand ich etwas Bayrisch, und sogar Plattdeutsch und etwas Murgtälerisch aus dem Schwarzwald von Tante Elfi. Aber sicherheitshalber übersetze Vater mir die Worte, die er mitbekam.
„Mid da Mochtiabanohm vo de Nationalsozialistn hot se in Berchtsgoan vui vaändat. Da Grund unn Bodn vom Obasoijzbeag is von eana teis unta an eaheblichm Druck erwoabn worn. Er is nachanzum Führersperrgebiet worn, mi'm Beaghof im Zentrum. Da iabadimensioniade Bohhof vo Berchtsgoan is a weidas Zeignis vo dera Afmandlarei.“, schnarrte der Lautsprecher.
Vater übersetzte: „Nach der Machtergreifung hat das NS-Regime den Obersalzberg zum Führersperrgebiet erklärt. Der Berghof lag im Zentrum davon. Das Kehlsteinhaus und der überdimensionierte Bahnhof Berchtesgadens sind von nationalsozialistisch geprägter Architektur. Die Reichskanzlei Dienststelle Berchtesgaden wurde zweiter Regierungssitz des Deutschen Reiches.“
Ich sah die nassen, kalten Wände, die abn uns vorbeizogen. Vater kam mit dem Übersetzen kaum nach. Der Bayer plapperte unverdrossenen weiter, wie ein Wasserfall:
„De oglastetn Ankäufe dera Nazis af'm Obasoijzbeag san natuagmäß net af groaße Gengliab g‘stoßn. Da Widastond geng des Naziregime hot se in Grenzn g‘hoijtn. Zum Doud varuatejjta, spada af Lemnslong begnodigta, woa da Kriß Rudolf, a Regimekritika Berchtsgoana Heakunft. Era hot seinazeid in Wean oijs a Privatdozent an Leahstuij inneghobt hot unn 1938, glei noch'm Oschluss, a Leahvabot ausgsprochan kriagt. De Berchtesgoana Weihnachtsschitzn soans aa no bei da Entnazifizierung oijs widastondsähnliche Gruppn eihgstuft worn, wenga iahra Hintatreibung vo de nazistischn Rituale.“
Vater erklärte es mir. Es gab hier die Berchtesgadener Weihnachtsschützen. Sie hatten sich gegen eine Vereinnahmung ihres Brauches durch die Nazis und gegen die Auflösung des Franziskanerklosters gewehrt. Der Vereinigungsvorstand wurde daraufhin als einziger Berchtesgadener Postbeamter zur Wehrmacht eingezogen, der Ehrenvorsitzende Rudolf Kriß wurde wegen regimekritischer Äußerungen zum Tode verurteilt. Später wurden die Weihnachtsschützen als widerstandsähnliche Gruppe anerkannt.“
Der Mann in Lederhosen erzählte weiter, vom Angriff auf den Obersalzberg.
„De Alleiatn hom om 25. Aprui 1945 af an Luftogriff af'n Obasoijzbeag g‘mocht. Da oschliaßande Obzuag vo de no in Berchtsgoan vabliabanan NS-Spitzn hot de Voaraussetzung fia de kompflose Iabagob on de Amerikana gschoffn.“
„Der Abzug der bis dahin noch verbliebenen NS-Spitzen machte die kampflose Übergabe an die Amerikaner möglich.“, übersetzte Vati.
“Berchtsgoan is vo nam Vabond aus US-Truppn unn a boa Franzosn om 4. Mai 1945 bsetzt worn. Er hot kuaz draf den oijs Hitlergegna bekonntn Berchtsgoana Kriss Rudolf zum easchtn Buagamoasta bruafa.“
Vati verstummte.
„Vati, was ist?“, fragte ich.
„Dr Dokter Eugen Fischer, aa bekonnt unta seim Pseudonym A. Helm, war Geolog unn Historika vo Berchtsgoan.“, fuhr der Einheimische fort.
Vater sah mich an.
„Vati, was ist?“
„Ich musste grade an etwas denken, was uns damals im Krieg passiert ist – kurz bevor wir uns nach Hause zurück nach Münster durchgeschlagen haben.“
Er war bedrückt. Sein Antlitz verfinsterte sich.
„Was war da?“, hakte ich nach.
„Es war fürchterlich – und so seltsam.“
Vater kämpfte. Er wollte nicht reden, und doch erzählte er mir weiter. Stoßweise, Satz für Satz.
„Da sind wir in die Höhle geflüchtet. Und einer von uns wurde erschossen.“
Hier im Salzbergwerk in eine Höhle? , fragte ich mich.
Vater jedoch wurde erneut still. Dann plötzlich kam es aus ihm heraus, und ich bekam einen Einblick in seine Jugendzeit, dessen Zusammenhang mit meiner Entdeckung ich erst Jahrzehnte später verstanden habe.
„Es war eine Eishöhle, nicht hier im Salzbergewerk, sondern oben am Watzmann.“, sagte Vater, als ob er meine gedachte Frage gehört hätte. „Weißt Du, es gibt hier tolle Eishöhlen. Zum Beispiel die Schellenberger Eishöhle. Wir waren da mal auf einer Bergtour. Sie liegt im Schellenberger Forst, nahe der österreichischen Grenze. Aber Österreich war ja damals eingegliedert worden.“
Vater kam von dem ab, was er mir von der Eishöhle beim Watzmann erzählen wollte. Ich ließ ihn diesen Abschweifer machen. Ich spürte er brauchte ihn, um dann zu seinem Erlebnis zurückzukommen. Die Fahrt in das Salzbergewerk hinab würde eh noch dauern.
„Wir waren damals so fertig. Die Schellenberger Eishöhle hatten wir nur nach einem vierstündigen Fußmarsch erreichen können. Zum Glück durften wir Pausen einlegen. Zehn Jahre vorher hatten Arbeiter unter der Leitung von einem Thomas Eder einen Felsensteig gebaut. So konnten auch wir den Höhleneingang besser erreichen. Der Weg führte von der Mittagscharte über Treppen und Tunnel hinab zum Eingang der Eishöhle. Das war ein Höhenunterschied von 130 Metern. Unterhalb der Eishöhle lag eine Schutzhütte, wo der Toni Lenz wohnte. Hier durften wir ausruhen, bevor es in die Höhle ging. Von der Hütte aus waren es noch etwa 20 Minuten Fußmarsch zur Eishöhle. Dann ging es zum Eingang. In der Höhle gab es dann auch kein elektrisches Licht so wie hier im Salzbergwerk. Wir hatten Karbidlampen. Das Eis der Höhle bildet sich hier teilweise im Frühjahr neu. Es sieht dort aus wie in einer Tropfsteinhöhle. Wir waren einmal dort. Der Höhleneingang war etwa 20 Meter breit und bis 4 Meter hoch.“
Vater erzählte weiter. Sein Atem kondensierte.
„Dahinter zog sich ein schneebedeckter Schutthang nach unten bis zum Bodeneis der Josef-Ritter-von-Angermayer-Halle. Sie war etwa 70 Meter lang und bis sieben oder acht Meter hoch. Das Eis ist 30 Meter dick. Im Schein der Karbidlampen zur Ausleuchtung der Höhle sahen wir am Deckengewölbe einen großen Trichter. Aus dessen runden Erosionsgängen rieselt Wasser. Es bildete seltsame Eisfiguren. Von hier gingen mehrere Gänge ab. An der rückwärtigen Wand gingen wir über einen Steigbaum. Von hier aus führte nämlich ein Gang zu einer Nebenhöhle, in der viele Vogelknochen herumlagen. Das war gruselig. An der Decke war ein Schlot. Wir gingen über eine Holztreppe über den ersten Eisfall, den mit der Eisorgel, abwärts durch einen Gang, in dem links die Öffnung eines Schlupfganges zu sehen war, in dem die Wände immer mit Raureif überzogen waren. Er war 30 Meter lang und wir konnten ihn nur rutschend oder in gebückter Haltung durchqueren. Dann endete er an mehreren tiefen Wasserstellen. Über einen zweiten Eisfall ging es weiter nach unten, doch dorthin durften nur die Gruppen mit Höhlenführern, die eine Magnesiumfackel bei hätten. Im Lichte der Fackeln, so sagte uns der Bergführer, würden dann dort viele Eiskristalle an den Wänden glitzern und an der Decke, in weiß und grünlich-blau. Doch er hatte keine Fackel. Wir hörten stattdessen, dass es der Sage nach Kaiser Karl der Große war, der hier irgendwo in einer Höhle im Untersberg von Raben bewacht an einem Tisch aus Marmor saß und schlief. Als sein weißer Bart siebenmal um den Tisch gewachsen war, erwachte er wieder und vereinte allen Deutschen wieder, indem es ihnengelang, den Erbfeind zu vernichten und ein neues Reich zu errichten.
Es soll auch einen Mann aus Reichenhall gegeben haben, den Lazarus Aigner, der im Jahr 1529 von einem barfüßigen Mönch in den Berg geführt worden sei. Er sah dort Kaiser, Könige und Fürsten und gelangte durch unterirdische Gänge in den Dom von Salzburg. Als er wieder aus dem Berg geführt wurde, befahl ihm der alte Mönch, dass er erst nach 35 Jahren berichten dürfe, was er gesehen und erlebt hatte. Jede Stunde im Inneren des Berges war ein Jahrzehnt oder gar Jahrhundert in der Außenwelt, und im Berginneren gebe es die Untersbergmandln, kleine freundliche Wichte, die die Schätze dort bewachten.“
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