Mit einem breiten Grinsen geht er langsam an mir vorbei.
„Du hast wohl das Erwachsenwerden einfach übersprungen“, werfe ich ihm vor und ziehe mir eine Jacke über.
„Das meiste daran wird überbewertet … Ich meine, sieh dich an!“
Was soll das jetzt wieder? Ich bleibe auf dem Gehsteig stehen und blicke Paul an. „Wie meinst du das?“
„Na, du wirkst so vernünftig, kontrolliert und bist ständig genervt.“ Wow, das sitzt und es fühlt sich nicht gut an. Es gefällt mir nicht, dass Paul mich so sieht.
„Genervt bin ich nur von dir“, scherze ich bitter.
„Das kaufe ich dir nicht ab … Es gibt keinen Grund dafür. Außer mit dir zu flirten und dir zu sagen, wie sehr mir die Nacht mit dir damals gefallen hat, habe ich dir nichts getan … Gut, ich rücke dir ein wenig auf die Pelle, aber das kann man mir nicht übel nehmen. Ich meine, sieh dich doch an! “ Wieder trifft er einen Nerv, aber dieses Mal ist das Gefühl dabei nicht schmerzhaft, dieses Mal verursachen seine Worte ein heißes Brennen in meiner Brust. Ich bin sprachlos. Denn wenn ich ehrlich bin, hat er recht. Er hat mir nichts getan, während ich ständig abweisend und sogar zickig zu ihm bin. Und obwohl ich mich so schwierig gebe, steht er hier und sagt mir auf seine direkte Art, dass er mich schön findet. Das wirklich Erstaunliche daran ist, dass ich ihm glaube. Es ist schon verdammt lange her, dass ich etwas aus dem Mund eines Mannes glauben konnte. Dieser Umstand verwirrt mich.
„Paul, ich …“, beginne ich, weiß aber gar nicht, was ich ihm sagen will. „Es hat nichts mit dir zu tun, okay?“
Ich starre in seine dunkelbraunen Augen und flehe ihn an, es mit dieser Antwort gut sein zu lassen.
„Okay“, sagt er ruhig und schenkt mir ein Lächeln, das ich zaghaft erwidere. Ich muss zugeben, es fühlt sich gut an, es zuzulassen.
Paul, 2016
„Das ist dein Auto?“
Ungläubig starrt Anna den restaurierten Klassiker, den ich mein Eigen nenne, an. Gut, ich gebe zu, er könnte eine neue Lackierung gebrauchen, aber mein rostbraunes Mädchen ist dennoch gut in Schuss.
„Ein 79er Opel Kadett“, lasse ich sie stolz wissen. An ihrem Blick erkenne ich, dass ihr das nicht das Geringste sagt.
„Der Wagen ist ja älter als du.“ Als müsse sie sich vergewissern, dass er echt ist, fährt sie mit den Fingern über den Türrahmen. Der Anblick, wie sie mein geliebtes Auto berührt, gefällt mir.
„Gut erkannt, Sherlock … Ein guter Freund von mir hat sich auf Oldtimer spezialisiert und ihn mir angeboten, als ich nach einem neuen Wagen gesucht hab. Es war … Liebe auf den ersten Blick.“ Ich sehe mir meinen Liebling an und sehe dann hinüber zu der Frau, die einmal dasselbe Gefühl in mir geweckt hat.
„Aber sind die nicht teuer und unzuverlässiger als ein ganz normaler Wagen?“
Breit grinsend werfe ich ihr einen Seitenblick zu, bevor ich ihr die Tür öffne.
„Weißt du, Anna, ich stehe nun mal nicht so auf normal … Und etwas Besonderes ist jede Anstrengung wert.“
Eindeutig zweideutig sehe ich sie an, während sie auf dem Beifahrersitz Platz nimmt und stur geradeaus blickt. Anna kann mir nichts vormachen. Sie weiß genau, was ich andeuten wollte. Das zarte Rot auf ihren Wangen verrät sie ebenso wie die zusammengepresste Faust in ihrem Schoß.
Zufrieden über die aktuelle Entwicklung zwischen uns umrunde ich mein Lieblingsstück und setze mich hinters Steuer.
Die Fahrt in die Glasfabrik war kurz und schweigsam. Anna ging ihre Notizen zu den Glas-Serien durch, während ich mich auf die Fahrt konzentrierte. Seltsamerweise fahre ich mit ihr im Wagen viel vorsichtiger als gewöhnlich. Als wir endlich aussteigen, blickt sie nochmals zum Opel zurück, als könne sie nicht fassen, dass dieser Wagen fährt, und das auch noch so gut. Ich muss lachen und ziehe sie in die richtige Richtung, zu den Büros der Designer.
Es fühlt sich komisch an, hier zu sein, wo ich mein halbes Leben lang versucht habe, mich vom Geschäft meiner Familie fernzuhalten. Doch es ist nicht so unangenehm wie befürchtet.
Zusammen betreten wir einen großen, lichtdurchfluteten Raum mit Skizzentischen und vielen Zeichnungen an den Wänden. Anna räuspert sich. Ein junger Typ mit trendiger Tigerbrille blickt zu uns hoch. Er ist bestimmt nicht älter als Mitte zwanzig. Höflich lächelt er uns entgegen.
„Sind Sie der Fotograf und die Texterin?“
Anna und ich nicken gleichzeitig. Anscheinend weiß er nicht, dass ich der zweite Sohn seines Chefs bin, worüber ich erleichtert bin. Die Leute hier behandeln mich anders, wenn sie es wissen. Ich hasse das.
„Jens“, sagt er und streckt mir seine Hand entgegen.
„Freut mich. Ich bin Paul und das ist Anna.“ Er schüttelt auch ihre Hand und lächelt sie an. Das gefällt mir weniger, auch wenn ich es verstehen kann. Wie oft tauchen hier schon hübsche, dunkelhaarige Schriftstellerinnen auf.
„Jens Lindner?“, fragt Anna nach.
„Ja. Der Schöpfer der Tier-Serie und der Blätter-Kollektion höchstselbst.“ Sein selbstironischer Ton macht ihn sympathisch. Wenn er aufhören würde, Anna von oben bis unten zu begaffen, könnte ich ihn sogar mögen.
„Was genau haben Sie sich denn vorgestellt?“
Abwartend steht er da und stemmt die Hände in die Hüften.
„Paul wird Fotos von Ihnen machen, beim Zeichnen und später dann, wenn Sie eines Ihrer entworfenen Gläser halten. Währenddessen stelle ich Ihnen einfach ein paar Fragen.“
Gut gelaunt setzt Jens sich zurück an den Schreibtisch, der vor ihm in die Höhe ragt. „Klingt machbar“, scherzt er.
Anna schnappt sich ihr Notizbuch und einen digitalen Rekorder, während ich die Kamera zusammensetze und das Licht teste.
Zum Aufwärmen gehe ich langsam um den Tischer herum und fotografiere Jens beim Skizzieren. Anna stellt ihm dabei eine Frage nach der anderen.
„Warum sind Sie Designer geworden?“
Er wollte immer schon etwas Künstlerisches machen.
„Wie kam Ihnen die Idee zur Tier-Serie?“ Ein Zoo-Besuch.
Er genießt Annas Aufmerksamkeit und bemüht sich, charmant und ehrlich zu antworten. Es gefällt mir nicht, dass sie sich so gut verstehen, und ich wünschte, sie würde sich mir gegenüber ähnlich offen verhalten und mich so oft anlächeln wie ihn. Missmutig lasse ich die Kamera in meiner Hand sinken.
„Stimmt etwas nicht?“
Besorgt unterbricht Anna ihre Aufzeichnungen.
„Nein, alles klar. Ich denke, wir könnten dann die Aufnahme mit dem Glas machen.“ Sie nickt, packt ihre Sachen ein und wartet auf mich. Ich lasse mir Zeit beim Verstauen der Kamera und atme tief durch. Das völlig unbegründete Gefühl der Eifersucht irritiert mich. Mir ist bewusst, wie lächerlich das ist.
Jens ist zu allem Spaß bereit und lässt sich auf meine Ideen beim Shooting vertrauensvoll ein. Das muss ich ihm lassen. Auch wenn er manches davon nur mitmacht, um Anna zu beeindrucken. Zufrieden stelle ich fest, dass sie ihn keines Blickes würdigt. Sie beobachtet viel eher mich dabei, wie ich Jens fotografiere. Das gefällt mir schon eher. Deshalb gebe ich mir besonders viel Mühe. Die Arbeit macht mir im Grunde immer Spaß, aber wenn Anna zusieht, sogar noch mehr.
Sobald ich Jens dazu gebracht habe, sich auf den Boden zu legen, gebe ich ihm ein bauchiges Weinglas mit bunt bemalten Rankenblättern und zeige ihm, wie er es in die Höhe und damit in Richtung meines Objektivs halten soll. Als ich die richtige Einstellung habe, fasse ich hinter mich, nehme die bereitstehende Weißweinflasche und fülle sein Glas langsam. Dabei mache ich eine Aufnahme nach der anderen. Ich bin zufrieden. Das Foto wirkt lebendig und interessant.
„Das war’s. Danke.“
Dieser Satz kommt mir mittlerweile so schnell über die Lippen, dass ich ihn kaum noch bewusst sage.
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