Ich trank bereits mein drittes Bier. Es war so gegen 22 Uhr, als der Kerl endlich kam.
»Hi, du«, sagte ich so beiläufig wie möglich.
»Hallo«, antwortete er und guckte mich mit gerunzelter Stirn an.
Ich erkannte ihn. Er mich erst nicht, aber dann fügte er sich in sein Schicksal und tat zumindest so, als würde er mich kennen. Trotzdem fragte er: »Wie war noch dein Name?«
»Tim. Gestern, weißt du noch?«
»Was war gestern?«
»Na, hier.«
»Ich bin oft hier.«
»Gut! Bier?«
»Hab selbst welches«, meinte er. »Aber gib mir ruhig eins.«
Ich gab ihm eines, er machte es auf, trank einen großen Schluck und rülpste herzerfrischend.
»Was jetzt?«, fragte ich. Da dämmerte es ihm offensichtlich, man merkte förmlich, wie ein paar Zahnräder in seinem Hirn ineinandergriffen.
»Hatte dich ganz vergessen«, sagte er grinsend und rülpste erneut, »hatte ganz vergessen, dass wir uns ja treffen wollten. Bin nur zufällig hier, aber da sehe ich dich da sitzen. Gut gut.«
»Ja, hab schon zwei Stunden gewartet.«
»Ach ja? Gut gut.«
»Was machen wir?«
»Weiß nicht, was du machst«, sagte er und trank noch einen Schluck, »ich habe Bandprobe. Bin grad auf dem Weg. Hier um die Ecke. Geht um 21 Uhr los.«
»Ist schon 22 Uhr«, meinte ich.
»Ja, vielleicht.«
»Prima. Kann ich mit?«, fragte ich ihn. Was sollte ich sonst tun?
»Ja, ist hier um die Ecke.«
Wir gingen los, den gleichen Weg, den ich auch gekommen war. Doch kurz vor der S-Bahn-Brücke bogen wir in die Gaußstraße ab, gingen da noch ein paar Meter hinein, dann auf einen Hinterhof und runter in einen Keller. Es war irgendwie schmuddelig, meinen Lebensabend hätte ich hier nicht verbringen wollen, feucht und modrig, doch den abgenutzten Vergleich mit einem Grab bringe ich hier jetzt nicht. Trotzdem, ein frustrierend lässiger Ort, den offenbar nicht mal die Ratten gut fanden und sich deshalb fernhielten. In einem der Kellerräume war der Proberaum, hier warteten bereits drei andere Typen und ein Mädel.
»Hi, hier ist einer, der will heute mal zuhören«, stellte der Typ mich vor.
»Ja, ist okay«, meinte einer mit kurzem aber igeligem Haarschnitt. »Dann sind ja alle da.«
Ohne irgendwas zu reden, begaben sie sich an ihre Instrumente und spielten los. Ein infernalischer Lärm brach über mich ein. Der Typ von gestern spielte eine Gitarre, der mit dem Igelhaarschnitt stand an einem Multimoog, cooles Teil, wenn auch leider nur monophon, aber wahnsinniger Klang. Ein anderer Typ, der erschreckenderweise lange Haare und einen Schnauzbart trug, bediente den Bass, ein punkig wirkender Kerl saß an einem kleinen Schlagzeug und das Mädel stand am Mikro und brüllte mit heller und kreischender aber sehr piepsiger Stimme fast unverständliche deutsche Texte hinein. Es war wirklich super, wenn auch irgendwie scheiße.
Als der Song zu Ende war, fragte ich: »Leute, das war echt gut. Total laut, echt hart. Wie heißt ihr?«
»›Kassenschläger‹. Guter Name, was?«, sagte der Igelhaarschnitt gut gelaunt und trank ein Schluck Holsten, das er auf seinem Moog platziert hatte.
»Ja, ist okay«, sagte ich, doch ich dachte: »Na ja.«
Die Probe dauerte noch bestimmt anderthalb Stunden. Sie spielten einfach nur, sie übten nicht. Selbst wenn sie einen Song zweimal hintereinander spielten, konnte ich fast nicht erkennen, dass es die gleichen Stücke waren, jedes Mal klang es anders. Es notierte sich auch niemand irgendwas. Nur das Mädel, das mir übrigens immer besser gefiel, machte sich hin und wieder Textnotizen. Auf diese Art hatten wir nicht geübt mit meiner Band in Berlin. Das lief gesitteter ab, alles wurde aufgeschrieben, obwohl niemand Noten konnte. Aber diese Methode hier gefiel mir auch gut. Musikstücke, die einmalig sind, die man immer wieder spielte und die immer wieder anders klangen, perfekt.
Es war kurz vor 0 Uhr, da packten dann alle ihre Instrumente wieder in die Ecke.
»Wollen wir noch was trinken gehen?«, fragte der Igelhaarschnitt vom Moog.
»Nee, man, ich muss morgen früh raus«, meinte der Kerl mit dem Schnauzer, »Arbeit«, ergänzte er noch. Schnell ging er auch aus dem Proberaum hinaus.
»Sonntag is’ morgen«, rief der Igelhaarschnitt hinterher und zuckte mit den Achseln, als keine Antwort kam.
»Ich komm mit«, meinte das Mädel.
»Ich auch«, der Schlagzeuger.
»Ich auch. Kommst du auch mit?«, fragte mich der Typ von gestern.
»Ja, klar. Prima«, freute ich mich.
Wir gingen hinaus, der Schlagzeuger schloss den Raum ab und dann marschierten wir los. Wenn ich mich richtig orientiert hatte, entfernten wir uns von meinem Zuhause. Unterwegs trafen wir den Typen mit dem Schnauzer wieder.
»Muss doch nicht arbeiten morgen, morgen ist Sonntag, hätte ja auch mal einer sagen können. Ich komm noch auf ein Bierchen mit«, meinte er. Komischer Typ. Leuten mit Bart darf man nicht trauen.
»Wo gehen wir hin?«, fragte ich meinen Freund.
»In die ›Bierstube‹, das ist beim Spritzenplatz.«
»Okay.«
Alle gingen schnellen Schrittes, denn es hatte leicht zu nieseln angefangen. Es war echt eklig draußen, vor allem kalt. Nach ungefähr 15 Minuten kamen wir dann in der »Bierstube« an. Blöder Name, aber der Laden war okay. Tatsächlich konnten wir einen Tisch ergattern und setzten uns drum herum. Tisch, wie spießig, aber egal. Der Igelhaarschnitt holte uns Bier vom Tresen.
»Hier ist immer was los«, erklärte mir der Typ von gestern, »hier kann man herkommen, wann immer man will, hier sind immer Leute da, die man kennt.«
»Ach«, meinte ich. Ich kannte niemanden.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte mich die Sängerin.
»Tim.«
»Tim? Das ist schlimm«, reimte sie und lachte krächzend. Ich verzog meinen Mund und hoffte, dass es aussah wie ein leichtes Lachen.
»Wie heißt du denn?«, fragte ich zurück.
»Betty«, sagte sie und guckte mir direkt in die Augen. Es wurde mir etwas heiß. Aber ich musste erstmal die Umgebung prüfen, bevor ich mich an sie ranmachte.
»Betty. Das ist gut. Leider fällt mir darauf so schnell kein Reim ein«, antwortete ich blöde.
»Er kommt aus Berlin«, meinte der Typ von gestern.
»Berlin?«, das war der Langhaarige.
Wow, das ist knorke«, rief der punkige Schlagzeuger, »so sagt man doch da, oder? In Berlin, meine ich. Knorke.«
»Ich sag das nicht so oft«, meinte ich, ich fand das Wort total beknackt.
»Ich hab gehört, da soll alles voller Ruinen sein«, sagte der Keyboarder.
»Was meinst du?«, fragte ich.
»In Berlin«, erklärte er, »alles kaputt. Häuser, Straßen. Da sollen noch Einschusslöcher in den Wänden sein vom Zweiten Weltkrieg.«
»Quatsch. Nicht bei uns.«
»Doch!«, widersprach er.
»Vielleicht in Ostberlin«, fiel mir ein.
»Ach so. Wo kommst du denn her?«, frage er. Das hatte ihm wohl etwas den Wind aus den Segeln genommen.
Ich sagte etwas entrüstet: »Westberlin natürlich.«
»Ist das so viel anders?«, kam da plötzlich links von mir von meinem neuen Freund.
»Natürlich! Spinnst du?«, das konnte ja wohl nicht wahr sein. »Du warst noch nie in Berlin, oder?«
»Nein«, antwortet der Typ nach kurzem Überlegen.
Dann sagte der Schlagzeuger: »Hast du keine Angst davor, dass die Russen da eine Atombombe raufwerfen?«
»Wieso denken alle, dass die Atombomben auf Berlin werfen?«, fing ich an. »Das ist total unlogisch, die schaden sich doch selbst damit. Überlegt doch mal: Die Radioaktivität zieht doch auch nach Ostberlin, also in den Russischen Sektor, und dann fallen da den Leuten die Haare aus, du glaubst doch wohl nicht, dass die das machen würden.«
»Da fallen nicht nur die Haare aus«, mischte sich Betty ein, »wenn man verstrahlt ist, ist das richtig Kacke. Guck doch mal Hiroshima.«
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