Frank überflog den Brief und seufzte erleichtert auf.
„Entwarnung!“, rief er. „Es ist weder eine Vorladung noch ein Inkassobüro noch sonst irgendwer, der unser Geld oder Seelenwohl pfänden will.“
„Um was geht es denn dann?“, schallte es aus der Küche.
„Es scheint, jemand ist gestorben. Jedenfalls kann ich das hier so rauslesen. Hör dir das mal an.“
Er begann vorzulesen.
Sehr geehrter Herr Wilkee,
bitte entschuldigen Sie das unsanfte Eindringen in Ihr Heim in Form dieses Briefes. Es ist weder meine Absicht, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, noch, Sie mit verlogener Werbepost zu belästigen.
Mein Name ist Rudolpho Santiago Mendoza Ramirez Handuselá. Ich war und bin der Rechtsanwalt Ihrer Großmutter.
Leider muss ich Ihnen hiermit mitteilen, dass Ihre ehrenwerte Großmutter, Sarah Wasserstein-Wilkee, am 30. September ihren letzten Atemzug nahm und aufgrund eines Herzversagens mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Reling eines Kreuzfahrtschiffs kippte, woraufhin sie im Wasser ertrank. Da ich in Verbindung mit der Küstenwache und dem Kapitän keine sterblichen Überreste ausfindig machen konnte, habe ich beschlossen, sie ab heute, dem 12. Mai, für tot erklären zu lassen.
Hiermit tritt der Wille von Frau Sarah Wasserstein-Wilkee in Kraft. Da ihr Ehemann (und räudiger Schuft) Basil Wasserstein-Wilkee nach wie vor nicht ausfindig zu machen ist, sind Sie der alleinige Erbe.
Die Beerdigung findet am 19. Mai in Shuus statt. Aus oben beschriebenem Anlass wird es keinen offenen Sarg geben (dafür aber ein offenes Büfett und Bar).
Im Rahmen ihrer Beerdigungszeremonie werde ich ihren Willen verlesen, so wie sie es gewünscht hat.
Um Ihre Anwesenheit wird gebeten.
In ehrfürchtigem Mitleid verbleibt
Rudolpho Santiago Mendoza Ramirez Handuselá
Lillian hatte inzwischen bei Frank auf dem Sofa Platz genommen und kicherte vor sich hin.
„Wer schreibt denn bitte so einen Brief?“, fragte sie lächelnd.
„Der spanische Anwalt meiner verstorbenen Oma. Bei dem Mann zerfließen Taktgefühl und Humor zu einem merkwürdigen Gemisch.“
„Also Leute gibt es ... gehen wir da hin?“
„Natürlich. Schon allein weil ich dann eine Möglichkeit habe, meinen Opa wiederzusehen. Und außerdem interessiert mich, was es so zu erben gibt.“
„Ach, du bist unmöglich“, sagte Lillian und zog Frank eins mit dem Sofakissen über.
„Das verstehst du nicht. Das ist meine Oma. Die war schon steinalt, als ich noch jung war. Es ist mir ein Rätsel, wie es die Frau bis ins nächste Jahrtausend geschafft hat. Sie muss jetzt ...“, er überlegte kurz, „ja, ich glaube, dieses Jahr wäre sie 105 geworden. Und dann bei einer Kreuzfahrt so einen Abgang hinzulegen, das hat doch was, oder?“
Lillian verkniff sich weitere Kommentare und widmete sich ganz ihrem Honigtoastbrot. Auch Frank nahm sich eins vom Teller.
„Also wenn es etwas zu erben gibt, hätte ich gerne ein Haus“, sagte Lillian mit vollem Mund. „Ein Haus oder etwas Geld. Mir stinkt diese Stadt so langsam. Seitdem wir beide mit dem Studium fertig sind, existieren wir hier orientierungslos vor uns hin. Der letzte Fortschritt war unsere Hochzeit.“
„Was soll das denn heißen?“, sagte Frank kauend.
„Das soll heißen, du erhoffst dir seit Ewigkeiten den Durchbruch für deine Pflanzensamen, und ich entwerfe Schrott, weil keine angesehene Architektenfirma gerade einstellt. Und wir leben immer noch in deiner Studentenwohnung“, fügte sie hinzu.
In diesem Moment ertönte ein ohrenbetäubendes Hundegebell von draußen.
„Und dann das. Es ist zehn Uhr abends und wie jeden Abend kläfft dieser dreibeinige Mist-Hund jetzt für eine geschlagene Stunde. Und um drei Uhr mittags kommt dann das Vieh von unserem direkten Nachbar und bellt für zehn Minuten. Und um siebzehn Uhr legt der Pitbull eine Etage unter uns los. Ich hasse Hunde, wirklich. Ich wünschte, die würden alle an ihren Tennisbällen ersticken. Du kriegst das ja alles nicht so oft mit, wenn du außer Haus bist.“
„Na komm, so schlimm ist es doch auch nicht, oder?“
„Doch. Ist es. Wie soll ich in Ruhe zeichnen und du an deinen Blumensamen arbeiten, wenn wir in einem Hundezwinger leben? Wie viele Samen hast du schon zerdrückt, weil dich das Hundegebell hat hochschrecken lassen?“
„Vielleicht ein Dutzend ...“
„Und ich hab bestimmt schon ein halbes Dutzend Geräteschuppen mit Zickzackdächern entworfen, weil mich diese vierbeinigen Alarmanlagen aus der Ruhe bringen. Das kann doch auf Dauer nicht so weitergehen.“
Lillian verspeiste den letzten Bissen ihres Honigbrotes und legte sich auf Franks Brust. Er streichelte sie liebevoll am Kopf.
„Hatte deine Oma nicht vielleicht ein schnuckeliges kleines Haus, das sie uns hinterlassen könnte?“
„Um ehrlich zu sein, ja.“
„Ehrlich?“
„Ehrlich. Klein ist es jedenfalls, aber ob es schnuckelig ist, wird sich noch zeigen. Ich hab sie bestimmt seit zwei Jahrzehnten nicht mehr besucht.“
„Warum denn das?“, fragte Lillian und schaute zu ihm auf.
„Na weil sie einfach immer unterwegs war. Mein Opa war mehr so der gemütliche Typ, war gern zu Hause und hat sich mit einem Modellschiff beschäftigt. Meine Oma ist noch mit siebzig aus Flugzeugen gesprungen und hat rund um die Welt neue Erfahrungen gesammelt.“
„Wo ist dein Opa eigentlich?“
„Wenn ich das nur wüsste. Aber was ihm an neugieriger Abenteuerlust fehlt, macht er mit seinem irrsinnigen Geschwätz wieder wett. Fantastisch sag ich dir. Irgendjemand sollte den ganzen Stuss mal aufschreiben ...“
Lillian verzichtete auf eine Nachfrage und studierte lieber den Brief des Anwalts.
„Die Beerdigung ist schon übermorgen“, sagte sie und senkte den Brief. „Wir fahren auf jeden Fall mal hin. Eigentlich könnten wir genauso gut alles zusammenpacken und abhauen. Wir haben nichts zu verlieren außer eine Rechnungsadresse, und das könnte sogar von Vorteil sein, meinst du nicht?“
„Aber die Blumensamen ...“
„... können auch mal einen Tag warten.“
Franks Gesichtsausdruck schaffte es nicht annähernd, seine überforderte Gefühlslage darzustellen. Hier wurde eine wichtige und alles verändernde Entscheidung in wenigen Sätzen getroffen.
„Fahren wir jetzt wirklich dort hin?“, fragte er stutzig.
„Natürlich fahren wir hin. Wir haben gerade unsere Zukunftspläne mit der Post bekommen. Keiner von uns hat einen vernünftigen Job und wir haben praktisch kein Geld mehr. Wir haben nicht mal mehr genug, um Umzugskartons zu kaufen, geschweige denn, um einen Lkw zu mieten. Das bisschen Geld auf unserem Konto reicht wahrscheinlich grad so für die Tankfüllung nach Shuus. Dort kriegen wir bei der Beerdigung erst mal was zu futtern. Und überhaupt, was kann schon passieren?“
Kleine Momente wie diese erinnerten Frank daran, wie sehr er Lillian liebte. Es waren ihr Wagemut und ihre Furchtlosigkeit, die die beiden überhaupt erst zusammen gebracht hatte. Immerhin war sie eine Architektin und er ein Biologiestudent. Ihre Hobbys und Interessen waren ebenso verschieden wie ihre Persönlichkeiten. Lillian trank Tee, Frank bevorzugte Kaffee. Er blieb lieber zu Hause, sie streckte lieber den Kopf vor die Tür und lief einfach mal der Nase nach drauflos.
Lillian blickte ihm in die Augen und wartete gebannt auf eine Entscheidung.
„Und?“, fragte sie neugierig und verzog die Nase. „Wie sieht’s aus?“
„Einverstanden.“
„Ehrlich?“
„Ja, wir hauen ab. Auf Nimmerwiedersehen Großstadt. Viel haben wir wirklich nicht zu verlieren, außer uns. Und ich bin mir sicher, dass du mir noch eine ganze Weile erhalten bleibst.“
Lillian ließ ihn bei einem langen Kuss spüren, dass sie auf keinen Fall vorhatte, ihn alsbald zu verlassen.
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