»Das Zeichen auf der Stirn ist gut getarnt... und wenn du es erkennst, dann sei gewarnt...« Nun ich glaube, es trifft den Nagel ziemlich genau auf den Kopf. Aber wozu sich noch den Kopf zerbrechen. Die Vier sind tot... und damit erübrigen sich alle weiteren Gedanken an sie. Allerdings ist das einfacher gesagt als getan. Für mich hatte diese Untersuchung letztlich auch private Konsequenzen. Damit meine ich mein Interesse an diesem Fall war zu intensiv geworden und als die Geschichte vorbei war, hielt ich es in meinem Zweizimmer Apartment nahe der Innenstadt Münchens nicht mehr aus. Also zog ich hierher nach Wallenbach. Paradox irgendwie, ausgerechnet hierher zu kommen, da ich über die Bewohner dieses Ortes eine gute Portion mehr wusste als mir eigentlich lieb war. Trotzdem zog es mich an diesen Ort. Vielleicht ist es dieses Flair des mystischen, der über diesem Ort liegt und mich in seinen Bann geschlagen hat. Ich mietete mich also in die Mansarde eines Hauses nahe am Waldrand ein. Zwei Zimmer wie in München, aber eben gerade nicht München. So sitze ich in diesem Moment in meinem kleinen Wohnzimmer und schreibe, während draußen die Nacht herein bricht. Es ist bereits empfindlich kalt und ein böiger Nordwind, der bereits in den frühen Morgenstunden begann, kündigt den nahen Winter an. Nachdem ich alle Aussagen, Erzählungen und Befragungen sortiert habe, beginne ich nun an dem Tag, der vermutlich »Die Rückkehr der Schatten« einläutete...
Die Elfhundertjahrfeier des Marktes...
Es war der 21. Juni 2002.
Das Areal des Betriebes lag etwas abseits des etwa viertausend Einwohner zählenden Ortes, der in der Gabelung zweier kleiner Flüsse lag, in der sie sich zu einem etwas größeren, der Waller, vereinigten.
Auf einer Landkarte würde man diese sich träge schlängelnden Gewässer nur mit Mühe finden.
In grauer Vorzeit jedoch mussten sie einmal gewaltige, reißende Ströme gewesen sein, da beide Täler hinterließen, die sich tief in die Erde gefressen hatten und genau dort, wo sie sich trafen entstand ein gewaltiger Kessel mit mehreren Kilometern im Durchmesser.
Hier lag Wallenbach, umgeben von dichten Wäldern.
Links der Vogelberg, der durch den seltsamen Wuchs seiner Bäume tatsächlich an ein Vogelnest erinnerte, rechts der Lagerberg, dessen Name eine zweckmäßigere Bedeutung hatte.
Als es noch keine Kühlmaschinen gab, wurde dort in den heißen Sommermonaten das Bier einer kleinen Privatbrauerei eingelagert um es kühl und frisch zu halten.
Zu diesem Zweck wurden Stollen tief in den Berg gehauen und mancher, der sich noch zu erinnern glaubt erzählt, dass der ganze Berg damit vollkommen durchzogen wäre.
Jetzt allerdings, im Zeitalter moderner Kühlanlagen waren diese Stollen schon längst verschlossen worden, um Unfälle durch spielende Kinder zu vermeiden. Diese waren tatsächlich vorgekommen, sogar ein Todesopfer war zu beklagen.
Geschichtlich gesehen war der Ort nicht sehr erwähnenswert. Außer einer kleinen Schlacht während des Dreißigjährigen Krieges, die hier mehr zufällig als vorbereitet stattfand und dazu noch mangels Interesse der Kontrahenten unentschieden endete, war Wallenbach wie viele Orte seiner Größe durch das Netz der weltbewegenden Ereignisse gefallen.
Bis, ja, bis auf einen Punkt, über den in der Gemeine niemand gerne sprach.
Mit dem stillen Einverständnis aller war dieser Punkt eben zum Tabu erklärt worden, obwohl sich die Meldungen damals überschlugen und großes Aufsehen in Presse und Rundfunk erregten.
Gemeint ist das »Massaker am Lagerberg«, das nun schon zehn Jahre zurück lag.
»Es war eine Horde von üblen Rockern und Banditen, die sich dort oben gegenseitig die Schädel einschlugen.« So jedenfalls der Bürgermeister des Ortes. Mehr dazu war nicht in Erfahrung zu bringen.
Bei jedem Ansatz meiner Recherche zu diesem Ereignis wurde sofort abgewunken und plötzlich konnte sich niemand mehr erinnern.
Dabei war es irgendwie auch verständlich.
Man wollte als aufstrebender Fremdenverkehrsort die Sache endlich vergessen und sich anderen, angenehmeren Dingen widmen.
Anlass hierzu bot zum Beispiel das im Jahre 902 verbriefte Marktrecht des Ortes, was die Bürger in diesem, also elf hundertsten Jahr gebührend zu feiern gedachten.
Um das Gelingen dieser einwöchigen Feier zu garantieren liefen die Vorbereitungen dazu bereits seit einem Jahr auf Hochtouren und näherten sich langsam ihrem Höhepunkt mit Beginn der Feierlichkeiten am zweiundzwanzigsten Juni.
Es war selbstverständlich, dass auch «Die Fabrik», wie alle den größten Arbeitgeber am Ort nannten, hierbei nicht fehlen durfte. Seit immerhin fast hundert fünfzig Jahren gab er, mit seinen 483 Arbeitsplätzen, vielen Familien in Wallenbach ein geregeltes Einkommen.
Väter und Großväter hatten hier schon zum Wohle der Sauberkeit ihr Tagewerk geleistet. Sie stellten Seife, Waschmittel, Schaumbäder, kurz gesagt Reinigungsmittel aller Art her und vertrieben diese auch mit gutem Umsatz.
Den Grundstein hierfür hatte seinerzeit der »Alte Gruber« gelegt. »Eine Institution des Erfolges«, wenn man den Ausführungen der Werks- Chronik Glauben schenken mochte. Auf jeden Fall hatten seine Nachkommen den Betrieb nicht minder gut geführt und da man stets um ein gutes Verhältnis zwischen Belegschaft und Geschäftsleitung bemüht war, lag es nahe, dass Joachim Gruber Junior, der jetzige Firmeninhaber, eine nicht unbeträchtliche Summe zum Gelingen des anstehenden Jubiläums beigesteuert hatte. An diesem Freitagnachmittag war, wie sollte es auch anders sein, in jeder Abteilung der Fabrik das bevorstehende Fest Hauptgesprächsthema.
Lediglich die »Produktkontrolle«, deren Angestellte die Aufgabe inne hatten alle frisch hergestellten Chargen der Produktpaletten auf deren Tauglichkeit zu überprüfen, gab es noch ein anderes Thema.
Seit etwa drei Monaten war hier Manuela Böller als Laborantin beschäftigt. Sie hatte zwar hier im Betrieb gelernt, doch nie im Traum daran gedacht, nach Beendigung der Ausbildung hier fest angestellt weiter zu arbeiten.
Diese Möglichkeit war ihr erst kurz vor der Abschlussprüfung angetragen worden und nach reiflicher Überlegung sagte sie schließlich zu.
Eigentlich hatte sie ein Sprachstudium nach abgeschlossener Berufsausbildung in Erwägung gezogen, aber diese Idee, mit neunzehn Jahren ersonnen, lag drei Jahre zurück.
Seitdem war viel geschehen und die Realität des Arbeitstages hatte sie mit seinem Trott einverleibt, so dass sich die junge Frau mit blondem, schulterlangem Haar und Sommersprossen um die Nase, eine ganz zeitliche Rückkehr auf die Schulbank nur noch schwerlich vorstellen konnte.
Schließlich war da auch noch Gary. Sie hatten zwar nie von Heirat gesprochen, aber es lag deutlich in der Luft.
Sie lächelte angesichts des Bildes, das sie vor dem Traualtar abgeben würden.
Er war eins dreiundsiebzig groß und damit gute fünf Zentimeter kleiner als sie. Dies hatte beide jedoch nie gestört und so waren sie bereits seit vier Jahren ein Paar.
Manuelas »engste« Freundinnen hatten ihnen nur ein Zehntel dieser Zeit eingeräumt. Es lag wohl eher daran, dass sich nicht wenige von ihnen Gary auch an der eigenen Seite vorstellen konnte.
Laute Schritte im Gang der zum Labor führte ließen Manuela aus ihren Träumen, die sie für einen kurzen Augenblick entführt hatten, zurückkehren.
»Also, alles klar für heute Abend. Ich habe die Tische reservieren lassen«, kam Norbert Fink, einer ihrer Kollegen, lächelnd auf sie zu.
Er war eine Woche vor ihr in diese Abteilung gewechselt und heute wollten die beiden, wie es hier seid »Menschen gedenken« üblich war, ihren sogenannten Abteilungs- Einstand spendieren.
Meist wurde dies in der Form eines Frühstücks oder eines Mittagessens während der Arbeitspausen eingelöst.
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