Von der kleinen Hütte führt ein schmaler Pfad fort. Es ist dumm und einfältig, aber ich folge ihm, so gut es geht in der Dunkelheit. Mein Herz ruft leise Kirrils Namen zum Abschied und flüstert mir das Gefühl einer verpassten Umarmung zu, eines in Angst zerflossenen Kusses. Der Gedanke, nicht allein sein zu müssen, ist schön und schmerzhaft zugleich. Ich halte mich an ihm fest. Es gibt jemanden, der an meiner Seite sein wollte. Doch Onmma hat recht. Ich kann Kirrils Leben nicht auch noch auf meinen Schultern tragen. Er kennt mich nicht, weiß nicht, warum ich bestraft wurde. Diese kurze Zeit in Ruhe und Wärme ist mehr, als ich verdiene.
Mein Blick fällt auf mein Armband und ich komme mir töricht vor. Es hat bestimmt einen Peilsender. Meine klammen Finger ziehen. Harte Kanten bohren sich in meine Haut, aber ich zerre weiter. Blut tropft in den Schnee, doch es will nicht reißen. Ich umklammere es, als wäre es mein Leben.
Ich muss schnell weg von der Hütte. Die Männer haben mir mein Leben gerettet. Ohne sie wäre ich im Schnee erfroren. Und wie habe ich es ihnen gedankt? Ich habe ihnen eine Decke gestohlen. Was auch immer war, jetzt bin ich eine Lügnerin und eine Diebin.
Meine Finger bohren sich tief in den rauen Stoff der Decke. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Die Sterne sind mein einziger Lichtquell. Lange laufe ich und als die ersten Sonnenstrahlen die schneebedeckten Berggipfel küssen, schreckt mich ein lautes Knurren aus meiner Lethargie.
Ich zucke zusammen und es vergehen Minuten, in denen mein Herz aus der Brust zu springen droht, bis ich bemerke, dass es mein Magen ist, der diese Geräusche macht.
Hunger … ich habe Hunger. Ich denke an mein Gespräch mit Dannie und heiße Tränen kullern über meine Wangen. Ich sinniere über die ideale Welt, an die ich damals noch geglaubt habe, trauere um eine Freundin, deren freien Geist und Fröhlichkeit ich mit wenigen Worten getötet habe. Wie konnte ich je so dumm sein und an diese ideale Welt glauben?
In meinem Schmerz gefangen, bemerke ich ihn zu spät.
„Ich wollte dir nicht aus Nächstenliebe helfen, Mo.“
Ich schrecke zusammen und wirble herum. Hinter mir steht Kirril. Ich weiche vor der Dunkelheit zurück, die in seinem Gesicht lauert. Seine Lippen umspielt ein Lächeln. Wie kann derselbe Mund, den ich so gerne berührt hätte, hier und jetzt grausam wirken? Wo ist die Unschuld hin?
„Was willst du von mir, Kirril?“, frage ich zögerlich, vorsichtig, kann nicht glauben, dass es derselbe Mensch ist, der meine Füße verarztet und sein Essen mit mir geteilt hat.
„Du wirst mich zum Refugium begleiten.“
Ich weiche bei seinen Worten zurück. Dort erwartet mich im besten Fall eine Löschung. Und als der Schmerz in meiner verbundenen Schulter wütet, weiß ich nicht, ob ich das wirklich schlimm finde.
„Ist ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt?“, frage ich leise und Kirril … lacht.
„Sei nicht albern. Ich will dich nicht ausliefern. Ich brauche deine Hilfe.“
Doch alles an ihm sagt mir, dass er mich nicht um Hilfe bittet. Er fordert sie ein und würde nicht vor Gewalt zurückschrecken. Wohin ist der süße Junge mit den Grübchen verschwunden? Versteckt er sich unter dem grausamen Bogen der Dunkelheit oder hat er nie existiert?
„Meine Hilfe?“ Wie kann ich irgendjemand bei irgendetwas nützlich sein?
„Ich muss in die Anstalt. Und du weißt, wie man rauskommt, also auch wie mein reinkommt.“
Ich werde blass und mir wird schlecht. „Warum willst du dort rein?“, frage ich und weiche einen Schritt zurück, kann sehen, wie sich Kirril anspannt, bereit mir jeden Fluchtweg abzuschneiden.
„Sie … sie haben meine Schwester.“
Ich vergesse, wie man atmet. Eine Schwester. Eine von den Insassinnen hat einen Bruder, der sie retten will. Gibt es jemand da draußen, der mich, wenn auch nicht retten, vielleicht wiedersehen will? Liege ich irgendjemandem am Herzen, trotz meiner Schuld? Ich blicke auf mein blutverschmiertes Armband.
„Welche … wie wurde deine Schwester eingestuft?“, flüstere ich und die Zeichnung des Rolltreppenlabyrinths brennt in der Innenseite meines BHs.
„Sie … sie haben sie zu einer White erklärt. Sie haben uns angelogen. Sie haben gesagt, wenn Mira sich stellt, dann würde sie mildernde Umstände bekommen. Man sagte, sie hätte aus Selbstverteidigung gehandelt und würde die mildeste Strafe bekommen. Sie würden ihr als Blue nur die schlimmen Erinnerungen nehmen und sie wieder zurück in die Gesellschaft einführen.“ Kirrils Stimme zittert. Er geht in die Knie. Sein Gesicht ist weiß wie der Schnee. Keine Fröhlichkeit, keine Grausamkeit, nur noch Schmerz ist zu sehen.
Der Mensch Kirril verschwimmt vor mir. Kann eine Person so vielschichtig sein? Was definiert Kirril, macht ihn aus? Ich habe geglaubt, dass es Freundlichkeit und Fröhlichkeit seien. Doch können diese Eigenschaften auf einem Boden der Grausamkeit wachsen? Oder ist der Schmerz Nährboden für Grausamkeit geworden? Die Fröhlichkeit begraben oder zerfressen von der Falschheit anderer?
Ist Cailan vielleicht auch gütig gewesen? Habe ich nicht nur seine Schwester, sondern auch Cailans guten Kern auf dem Gewissen?
„Sie hat … sie hat es für mich getan. Sie hat ihn wegen mir getötet.“
Warum wird mir schlecht? Warum tragen mich meine Beine zu Kirril? Warum nehme ich den Mann in den Arm, der mich alles kosten wird, was ich mir in kurzer Zeit erarbeitet habe?
„Wie sieht deine Schwester aus? Kannst du sie beschreiben?“, höre ich mich fragen und bin mir nicht sicher warum. Habe ich mich schon entschieden? Werde ich ihn zur Anstalt begleiten?
„Ich habe ein Foto. Es ist alt … aber es ist alles, was ich besitze.“ Kirril greift in seine Brusttasche und zeigt mir das Bild seiner Schwester.
Ich drehe mich um und übergebe mich in den Schnee. Mein Magen ist leer und doch kann ich nicht aufhören zu würgen.
„Was ist mit dir?“, fragt Kirril besorgt und ich weiß, dass der nette Junge noch in ihm steckt.
Sein Lächeln … ich weiß jetzt, warum es mir so bekannt vorgekommen ist.
Das Mädchen auf dem Bild ist Dannie.
Als ich nur noch unkontrolliert atmen kann, drückt Kirril mir ein Behältnis an die Lippen. Es brennt, als die Flüssigkeit meine Kehle heruntergleitet. Doch die Spannung löst sich etwas in meinem Körper. Ich verdränge das Bild von einer goldenen Flüssigkeit und einem filigranen, zerbrochenen Glas.
Schweigend starrt Kirril mich an und ich weiß nicht, wie viel ich sagen kann, ohne ihn zu brechen und ihm alle Hoffnung zu nehmen.
Nach langem Schweigen sagt Kirril: „Du kennst sie. Du kennst Mira.“
Als ich nichts erwidere, bohren sich seine Finger in das Fleisch meiner Oberarme.
„Sag mir, was du weißt!“, zischt er. In seinen Augen brennt ein Feuer, das alles verschlingen könnte.
„Manchmal ist Unwissenheit besser als Gewissheit“, flüstere ich.
„… Ist sie tot …?“, fragt er schwach, kaum hörbar.
Wenn ich jetzt nicke, wenn ich jetzt ihren geistigen Tod als körperlich deklariere, bin ich frei.
Entsetzen über meinen Egoismus erfüllt mich. Eine Lüge hätte Dannie retten können. Doch ich habe mich für die Wahrheit entschieden, um mein Gewissen zu erleichtern. Es ist die falsche Entscheidung gewesen. Aber etwas hält mich zurück. Ein verletztes, zerbrochenes Ich, das weiß, wie es ist, in der Dunkelheit zu leben und nach der Wahrheit zu streben? Ich atme tief ein und aus, bete, dass es die richtige Entscheidung ist.
„Dannie … Mira … sie, sie hat sich an etwas erinnert.“
Ein Leuchten des Glücks tritt in Kirrils Augen und es schmerzt, als ich diese neugeborene Hoffnung noch in ihrem Kindsbett erwürge.
„Sie hat gelitten und die Aufmerksamkeit der Mutter auf sich gezogen. Sie … sie haben eine zweite Extraktion durchgeführt. Danach war sie … wie die anderen.“
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