„Wir werden schuld sein an ihrem Tod, wenn wir ihr nicht helfen. Bevor die Jäger sie finden, wird sie erfrieren oder verdursten! Dann sind wir wahre Mörder“, sagt die erste Stimme und schürt Hoffnung in meinem gebrochenen Herzen.
„Du hast keine Ahnung, Junge, wovon du redest! Wir alle werden weiß sein wie der Schnee, einfach nur, weil wir uns gegen das System aufgelehnt haben“, sagt die Wut.
„Das hört sich an, als hätten wir eine Revolution geplant. Wir sind einfach nur abgehauen“, fügt die Angst hinzu.
„Das reicht völlig. Regime, Diktatoren, Cherub, sie sind alle gleich. Was ihnen gefährlich werden kann, löschen sie aus. Meine Nichte, sie hat in der neunten Klasse einen kritischen Aufsatz geschrieben und wurde verurteilt. Sie war 14 Jahre alt und der Lehrer hat sie einfach ausgeliefert“, schreit die Wut in die Welt hinaus.
„In dieser verkommenen Gesellschaft hat doch jeder schon eine Gehirnwäsche bekommen. Nur Outlaws, wie wir, sind noch unberührt. Wenn sie uns in die Finger kriegen, ist der freie Wille der Menschheit gestorben“, fügt der Argwohn mit Angst hinzu.
„Wenn der freie Wille der Menschheit nicht einmal einem jungen Mädchen helfen kann … wenn der freie Wille der Menschheit sie einfach dem Tod überlässt, sollte er vielleicht nicht mehr leben“, wirft ihnen die hoffnungsvolle Jugend entgegen.
„Junge, du hast keine Ahnung, wovon du sprichst. Idealismus ist etwas Gefährliches. Woraus, glaubst du, sind die Anstalten entstanden? Was, glaubst du, wird den Menschen dort in die Gehirne gepflanzt? Ideologien, die nicht mit dem menschlichen Sein kombinierbar sind. Sie rösten die Gehirne so oft, bis nur noch Mus übrig ist. Vor allem bei den Whites haben sie alles ausgebrannt. Die da kann weniger empfinden als eine Pflanze, da bin ich mir sicher!“
Die Worte der Wut schneiden in mein Herz und widerlegen ihre Aussage. Ich fühle. Doch ich wünschte, seine Worte wären wahr. Ich wünschte, die Art, wie diese Menschen über mich sprechen, würde nicht wie Rasiermesser in mein Fleisch schneiden. Ich öffne den Mund, doch alles, was herauskommt, ist ein Husten. Alles um mich verstummt. Ich kann ihre Augen auf mir spüren. Als ich wieder Luft bekomme, versuche ich es noch einmal: „Ich werde nicht hierbleiben. Ich will niemanden in Gefahr bringen.“ Ich erwarte keinen Applaus und doch tut die Stille weh. Mühsam setze ich mich auf und sage: „Mir wird ein Mann folgen. Er jagt mich. Ich danke euch für die Rettung und die Wärme, aber ich bringe euch allein durch meine Anwesenheit in Gefahr.“
„Ich kann nicht für alle sprechen, aber ich würde dir gerne helfen“, höre ich die Stimme, die für mich Partei ergriffen hat. Die Jugend ist wagemutig und halsbrecherisch. Deswegen wird sie von dem Alter getötet und kann nie lange leben.
Ich blicke mich zum ersten Mal um und sehe einen jungen Mann. Seine Augen sind blau wie der Himmel, sein Haar dunkelbraun wie der Stamm einer kräftigen Tanne. Die anderen Männer scheinen älter. Ihre Gesichter von der Zeit gezeichnet, tragen sie Bärte und blicken mich argwöhnisch an.
„Das ist freundlich, aber ich will euch keine Schwierigkeiten bereiten“, erwidere ich und versuche mich aufzurichten. Der rechte Ärmel meiner Jacke ist verschwunden. Meine Schulter ist bandagiert und mein Arm hängt in einer Schlinge.
„Dafür ist es zu spät“, brummt einer von ihnen.
Ich zucke zusammen, suche den Sprecher und meine Augen finden einen riesigen Mann, der breitbeinig dasteht und auf mich hinunterblickt. Selbst unter der dicken Kleidung kann ich erkennen, dass sein Körper nur aus Muskeln bestehen muss. Er strahlt Härte aus, aber vor allem innere Ruhe. Lange sieht er mich stumm an, dann sagt er: „Der Junge hat Recht. Dich einfach in die Kälte zu schicken, ist unmenschlich. Doch hierbehalten können wir dich auch nicht. Wir werden deinen Vorrat mit Wasser aufstocken und Nahrung. Du kannst ein paar Tage hierbleiben und zu Kräften kommen. Mehr können wir nicht für dich tun.“
Die Männer um mich herum werden unruhig. Doch niemand widerspricht dem Riesen. Ich blicke mich um, zähle zwölf Männer und überlege, wie lange ich bleiben kann, ohne sie zu gefährden. Cailan hat es auf mich abgesehen, doch was wird er mit den Männern tun? Wird er sie ignorieren? Mich töten und Verstärkung holen, um sie auszulöschen oder gefangen zu nehmen?
„Danke! Das ist mehr, als ich je erhoffen konnte.“ Eine Nacht. Ich könnte hier eine Nacht verbringen, Wärme und Kraft tanken. Vielleicht Informationen sammeln.
„Ich begleite sie“, sagt plötzlich der junge Mann mit den himmelblauen Augen.
„Tu, was du nicht lassen kannst! Da sieht er das erste Weibsbild seit ein paar Monaten und verliebt sich gleich in das nächstbeste Wesen mit Brüsten“, brummt der große Mann.
„Onmma!“, ruft der junge Mann aufgebracht und sein Gesicht wird dunkler. Er wendet sich zu mir und sagt: „Hör nicht auf den alten Brummbären! Er wohnt schon so lange hier draußen nur mit Männern, die selten mehr als ein Rülpsen oder Gurgeln herausbringen, dass er vergessen hat, wie man mit einer Dame spricht.“ Ein abfälliges Prusten folgt seinen Worten.
„Ich heiße Kirril. Hast du einen Namen?“
Ohne darüber nachzudenken, erwidere ich: „Mo. Ich heiße Mo.“
„Hallo Mo! Wenn wir die Feiglinge in ein paar Tagen hinter uns lassen, kann ich dich auch tragen, solltest du noch nicht laufen können.“
Kirril klingt übereifrig und ich kann ein Lächeln nicht unterdrücken.
„In deinen Träumen, Junge! Sie bleibt hier, bis sie auf eigenen Beinen stehen kann und sie schläft alleine, ist das klar? Keiner nähert sich ihr auf mehr als einen Meter. Wer nicht gehorcht, wird erschossen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?“, sagt Onmma.
Erschrocken blicke ich mich um und entdecke Enttäuschung in einigen der Blicke. Verschreckt, kauere ich mich zusammen.
Onmma dreht sich zu mir und sagt: „Männer, die länger als drei Monate keine Frau gesehen haben, sind wie Tiere. Merk dir das! Am besten siehst du alles, was einen Schwanz hat, als Tier. Der Kleine ist noch jung und weiß es noch nicht besser. Er ist ein guter Junger. Es wäre eine Schande, wenn er wegen dir sterben müsste.“
Ich nicke und verstehe die Botschaft.
Man gibt mir eine Decke und ein Kissen. Trotz des Feuers in dem Ofen, der in der Mitte des Zimmers steht, sind meine Finger klamm. Ich blicke mich um und finde Wände aus Holz. An der Decke sind Bretter kreuz und quer übereinander genagelt.
„Das ist eine alte Lodge. Hier haben früher Menschen auf Wanderschaft genächtigt. Die meisten sind unbewohnbar, nichts mehr als Ruinen. Viele sind aus Stein gebaut. Einige, wie diese, aus Holz. Wir haben hier sogar eine Küche. Wenn du auf Toilette musst, findest du vor dem Haus eine einfache Sanitäranlage. Wir Männer waschen uns meist mit kaltem Wasser. Aber für dich können wir auch Wasser heiß machen. Soll ich dir helfen, die Schuhe auszuziehen? Beim Schlafen sind die sicher störend. Ich gebe dir ein Paar von meinen Socken, dann werden deine Füße nicht kalt. Die meisten von uns schlafen mit den Füßen zum Ofen. Es träumt sich schlecht mit kalten Füßen.“
Der Redeschwall überfordert mich und ich muss an meinen ersten Tag in der Anstalt … dem Refugium denken.
Bevor ich antworten kann, packt Kirril mein Bein, öffnet mit wenigen Griffen gekonnt die Verschlüsse meiner Schuhe und zieht sie mir von den Füßen. Leise pfeift er durch die Zähne. Ich will es nicht sehen und doch gleitet mein Blick meine Wade entlang. Die weißen Socken sind an mehreren Stellen rot gefärbt. Kurz frage ich mich, ob es mein Blut ist. Eine dumme Frage. Wessen sonst? Ich versuche mit den Zehen zu wackeln. Doch nichts bewegt sich. Meine Füße sind taub.
Vorsichtig zieht Kirril an den Socken.
Читать дальше