„Würdest du denn zurück wollen? In die Anstalt meine ich. Wenn du die Wahl hättest.“
Ich denke über Kirrils Worte nach und schüttele den Kopf, finde in mir die Antwort, die ich gesucht habe.
„Ich möchte die Welt sehen, die außerhalb dem Glas liegt. Ich möchte herausfinden, wer ich war und wer ich jetzt bin.“
„Ist das nicht dieselbe Person?“, fragt Kirril leise.
„Ich weiß es nicht“, sage ich laut und hoffe, dass es nicht so ist. Dass ich jemand anderes sein kann, als eine verurteilte Mörderin.
„Was würde mit dir passieren, wenn sie dich zurückbringen?“ Kirrils Augen und Ohren saugen hungrig alles an Information in sich auf, was ich ihm gebe. Kann es bloße Neugier sein? Interesse an einem Leben, das so anders ist als das hier?
„Man wird mir vermutlich die Erinnerungen nehmen und versuchen mich wieder ins System zu integrieren.“ … Wenn Cailan mich nicht vorher tötet . Meine Gedanken wandern zu Dannies leeren Augen und ich schließe meine Lider.
„Du bist sicher noch müde, ich lasse dich schlafen. In fünf Stunden gibt es Abendessen“, sagt Kirril und erhebt sich.
Ich flüstere ein Danke und denke darüber nach, ob die Männer hier nichts weiter machen als schlafen und essen. Und selbst wenn, wäre das so schlimm? Was müsste es mehr geben? Was könnte es mehr geben? Onmma hat von Familie gesprochen. Die Männer hier haben keine. Sie verstecken sich vor einem System, das mir die Erinnerungen genommen hat. Die Erinnerungen an einen Mord. Ich zucke unter dem Gedanken zusammen und liege einfach nur mit geschlossenen Augen da, gehe auf in dem Schmerz meiner Schulter und meiner Beine.
Heißt leben leiden? Schmerzen ertragen, den Hunger stillen … schlafen?
Als die Sonne langsam untergeht, kommen die Männer wieder ins Haus. Sie zünden den Ofen an. Ich sitze in einer Ecke und versuche unsichtbar zu werden. Ab und an wirft man mir einen seltsamen Blick zu. Doch ansonsten ignorieren mich die Männer. Ich studiere ihre Bewegungen, ihre Mimik. Sie sind so anders als die neugeborenen Frauen, als Mutter Sunshine.
Sie sind grob zueinander. Lachen laut, rülpsen und beleidigen sich am laufenden Band. Sie sind anders als Cailan. Ich denke an seine dunklen Augen, die sich in mich fressen, erinnere mich an die sanften Berührungen, von denen ich mir mehr gewünscht habe. Doch alles, was Cailan in sich trägt, alles, was er mir geben kann, ist Hass. Gerechtfertigter Hass.
Meine Augen finden Kirril, der um einen Baumstamm mit anderen Männern sitzt. Sie lachen, werfen Würfel, klopfen sich auf die Schultern und Gegenstände wechseln ihren Besitzer. Ein Wort kommt mir zugeflogen: Glücksspiel. Die Männer spielen um das Bisschen, das sie besitzen … für die kleine Chance, mehr zu besitzen? Ich verstehe es nicht wirklich und bin doch fasziniert von all den Gefühlen, die über die Gesichter tanzen. Freude, Ärger, Belustigung, kurz aufwallende Wut, Schadenfreude, … die Gefühle wechseln sich so schnell ab, dass ich ihnen nicht folgen kann.
Es ist befremdlich. Es macht mir Angst. Und doch kann ich nicht genug davon bekommen, kann meine Augen nur von einem Gesicht zum nächsten tanzen lassen.
„Sie sind grob, ungehobelt und haben keine Manieren. Aber es sind gute Männer. Sie wissen nicht, wie sie sich dir gegenüber verhalten sollen.“ Kirril sitzt plötzlich neben mir.
Ich bin so fasziniert von dem Schauspiel, das sich mir bietet, dass ich nicht merke, wie nahe er mir ist, bis ich seine Körperwärme spüre. Überrascht drehe ich mich um und blicke ihm direkt in die Augen. Der Feuerschein der Kerzen fängt sich in dem hellen Blau seiner Iris, tanzt fröhlich in der Farbe des Himmels. Unsere Schultern berühren sich. Kirrils Nähe ist mir nicht unangenehm und doch pocht mein Herz schneller.
Mein Blick fährt zu seinen Lippen und verliert sich in dem Bogen der Freude. Wie kann so eine kleine Geste meinen Puls zum Rasen bringen? Als seine Hand zu meinem Gesicht fährt und mir eine Strähne aus der Stirn streicht, halte ich still, wage es nicht zu atmen. Kirrils Gesicht kommt näher und mein Körper reagiert ohne mein Zutun. Kirrils Hand fährt zu meiner Wange und ich hebe ihm mein Gesicht entgegen, begegne seinem suchenden Blick. Ich tauche ab in der Tiefe seiner Augen, werde gefangengenommen von dem Gefühl seiner Finger auf meiner Haut.
Dann werden seine Augen dunkel. Schwarz überschwemmt Blau. Leises Interesse wird zu Begierde und Lust. Besitzergreifend und wütend.
Ich schrecke zurück, schaffe mit wenigen Bewegungen Platz zwischen uns und starre Kirril erschrocken an. Mein Herz klopft immer noch schnell, doch es ist Angst, die es in einen Dauerlauf schickt, es jagt und daran erinnert, wem diese Hülle gehört und wozu sie bestimmt ist. Und das alles wegen den Entscheidungen einer Person, die ich nicht mehr bin.
Der Körper und mein jetziges Ich, so jung es auch sein mag, nicht mehr unschuldig, sind Wild, das gejagt und erlegt wird als Sühne für die Sünde von Anuva. Ein altes Ego, an das ich mich nicht erinnere. Ich weiß, dass mein Gehirn mir einen Streich spielt, dass Kirril nicht Cailan ist. Doch selbst diese kleine Berührung seiner Hand hat ein Band zwischen uns geschaffen, die uns unwiderruflich verbindet.
Was hätte ein Kuss bewirkt? Ein Kuss … Lippen auf Lippen. Ich blicke wieder zu Kirrils Mund, frage mich, wie es sich anfühlen würde, seine Lippen sanft auf meinen, meine fest auf seine gepresst.
Ein Kuss … eine Berührung, die tiefer geht als ein Blick, ein Band der Zuneigung. Ich mag Kirril. Sein Lächeln ist voller Freude, seine Worte quellen über mit Freundlichkeit und ich finde ihn schön, möchte, dass er in mir etwas entdeckt, das er schön finden kann. Er ist hilfsbereit und anstatt mich zu ignorieren, wie die anderen Männer, zieht er mich mit Zuvorkommenheit in seinen Bann. Er sucht meine Nähe und ich will mehr davon, bin verführt von dem leisen Versprechen von Wärme, Zuflucht und Sicherheit.
Und wieder denke ich an das Brennen in Cailans Augen und baue eine unsichtbare Mauer zwischen Kirril und mir, panzere mein Herz und weigere mich, meiner Sehnsucht nachzugeben. Das hier ist nur eine Zwischenstation. Ein Moment, in dem ich tief einatmen kann, ohne die Angst verbrannt zu werden.
Mehr nicht.
Ich muss noch heute Nacht in die Kälte hinaus. Ich darf Kirril nicht in Gefahr bringen. Mein Herz sagt mir, dass Cailan nicht davor zurückschrecken würde, Kirril seinem Zorn und seiner Wut zu opfern, in der Hoffnung mehr Befriedigung zu erfahren, auf dass sein Hass in sich selbst verbrennt.
Ich glaube Enttäuschung in Kirrils Augen zu sehen, doch er respektiert den Abstand zwischen uns, erhebt sich wortlos und lässt mir mehr Raum. Zu viel freier Platz um mich herum in einer überfüllten Hütte. Ich rolle mich zusammen und vertraue mich den Geräuschen an, lasse mich wie ein Kind von Lachen, Gegröle und Flüchen in den Schlaf wiegen. Ein seichtes Dösen, in dem ich versuche Kraft zu schöpfen für das, was vor mir liegt. Eine Wärme erfüllt mein kaltes Herz und ich bin froh, dass mir dieser Augenblick geschenkt wird.
Ein Geschmack von Wärme und Sicherheit, von dem Ansatz einer Romanze. Die Idee von einem Leben ohne Glaswände, ohne Schuld. Der Gedanke, dass ich all das nicht haben kann, wird groß und zerschneidet wie Rasierklingen diesen Haucht von einer Möglichkeit und verwandelt ihn in einen unerreichbaren Traum. Ich versuche loszulassen und den Wunsch abzuschütteln, das alles für immer in mich aufzusaugen und ein Teil dieser Welt zu werden.
Das kleine Glück dieser Gruppe kann ich nur bewahren, wenn ich die Möglichkeit aufgebe und sie als Traum in mir einschließe.
Und so warte ich, bis das Gelächter leiser wird, Stille und schließlich Schnarchen überwiegen. Die Hütte wird nur von dem Schein der glühenden Kohlen im Ofen erleuchtet. Ich hänge meinen Rucksack über die gute Schulter und wickle mich in die geliehene Decke. Meine Hände tasten sich die grobe Holzwand entlang und ich schreite durch die Tür der Kälte entgegen, der Einsamkeit ... und bin doch nicht alleine. Über mir leuchten die Sterne aufmunternd für mich. Unendlich weiter als der blaue Himmel. Mehr Tiefe als mein Herz vertragen kann. Plötzlich komme ich mir klein vor und unbedeutend. Dieser Gedanke hat etwas Tröstendes. Ich ziehe die gestohlene Decke enger um mich und stapfe los. Wohin? Ich weiß es nicht.
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